»Wie im Himmel« heißt der Glücksfall eines schwedischen Filmes (2004) von Kay Pollak, der ganz unscheinbar und unaufhaltsam viele Herzen bewegt und berührt. Daniel Dareus ist ein berühmter Dirigent, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ein Herzinfarkt wirft ihn auf sich selbst zurück. Er wagt eine Reise nach innen und zieht sich alleine an seinen Ursprungsort zurück. Langsam gewinnt er in seinem kleinen Heimatdorf wieder Vertrauen in das Leben.
Er findet durch die Begegnung mit dem kleinen Kirchenchor zu seiner Leidenschaft zurück, zur Musik. Seine unkompliziert bescheidene Art und Weise als neuer Leiter dieses Chores öffnet die Herzen der zehn Mitglieder. Er führt sie zu sich selbst, weil er aus der Hoffnung lebt, dass jede und jeder seinen eigenen Grundton hat und dass alle Musik schon da ist. Seine Lebensweisheit lässt sich mit wenigen Worten umschreiben: »Alles beginnt mit dem Hören.« Im Horchen auf den Atem, in der Kraft des Daseinkönnens ereignet sich die Verbindung zwischen dem persönlichen Ton und der gemeinsamen Lebensmelodie.
In diesem eindrücklichen Film begegnen mir die großen Lebensthemen mit einer Leichtigkeit, die die Härte des Lebens nicht ausklammert. Ich entdecke darin jene mystische Grundhaltung, die uns Menschen nicht auf unsere Mängel fixiert, sondern uns Ansehen schenkt im Hervorheben unserer unerschöpflichen Wachstumsmöglichkeiten, unserer einmaligen Ressourcen. Es ist für mich eine Wohltat, teilhaben zu können am Aufblühen von ganz unterschiedlichen Menschen. Das gemeinsame Singen bewegt sie zu einer befreienden Offenheit, die viel Verlogenes, Totgeschwiegenes freilegt. Sie führt zu einem authentischen Dasein, das Konflikte nicht mehr überspielt. Zwei zentrale Aspekte, die in jeder mystischen Biografie auftauchen:
- Menschen, die wirklich der Kraft ihres Daseins, dem Ursegen trauen, werden innerlich frei.
- Sie sind weniger manipulierbar. Sie werden ermächtigt zum aufrechten Gang. Sie hinterfragen familiäre, politische und kirchliche Institutionen, die durch ungesunde Abhängigkeiten und durch Angst Macht ausüben wollen.
Einer der bewegendsten Momente im Film ist darum für mich der Soloauftritt von Gabriella beim gemeinsamen Konzert. Seit Jahren wird sie von ihrem Mann geschlagen. Alle im Dorf wissen es, doch niemand wehrt sich mit ihr, bis die heilsame Weggefährtenschaft im Chor zur Befreiung bestärkt. Mit ihrer kraftvollen Stimme singt sie von ihrer Sehnsucht, ihr Leben wirklich zu leben im Wissen, dass sie gut genug ist. Sie will ihr Selbst nicht mehr schlummern lassen, sondern es entfalten, auch zum Wohle ihrer Kinder.
Diese lebensbejahende Spur will ich in der christlichen Tradition hervorheben. Sie ist bis heute spürbar in den Erzählungen von den heilenden Begegnungen Jesu, die zum wirklichen Leben verführen! Im Laufe der Kirchengeschichte wird sie manchmal zugedeckt durch eine lebensverneinende Fixierung auf Schuld und Sünde, ohne jedoch völlig verloren zu gehen. Mystische Menschen betonen unermüdlich, dass im Anfang nicht die Ursünde, sondern der Ursegen ist. Wie anders könnte die bedingungslose Liebe Gottes glaubwürdig erlebbar werden? Der Theologe Johann Baptist Metz betont zu Recht, dass Jesu erster Blick nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen gilt. Ich ergänze diesen wichtigen Aspekt mit der Zusage, dass der Blick Jesu auch der inneren göttlichen Quelle gilt, die heilende Kräfte in uns freilegen kann. Diese hoffnungsstiftende Perspektive heben Mystikerinnen und Mystiker im Entfalten eines positiven Menschen- und Gottesbildes hervor. Ein Ja der Liebe ist in unser Herz gelegt, das zur Selbstannahme und zur Solidarität bestärkt.
»Heute besuche ich mich, mal schauen, ob ich zu Hause bin?«, sagt sich der Münchner Karl Valentin mit seinem tiefsinnigen Humor. Ich erkenne in diesen Worten eine der urreligiösen Fragen. Sie erzählt von der Verheißung und der Zumutung, sich zurechtzufinden im eigenen Seelenhaus. Ich kann dies nur durch die Erinnerung, dass mir vor allen Ansprüchen der Zuspruch gilt, angenommen und geliebt zu sein in meinem Dasein, in meiner Lebenskraft, in meiner Verletzlichkeit, in meiner Liebesfähigkeit und mit meinen Ecken und Kanten. Eine »Moralin-Religion«, die Menschen klein und unmündig halten will, ist ein Verrat an der Menschenfreundlichkeit jenes Liebhabers des Lebens aus Nazareth.
Mystische Menschen hinterfragen den Machtanspruch einer organisierten Religion, die sich anmaßt, den Menschen Gott bringen zu können. Es gibt keinen gottlosen Menschen auf dieser Welt, weil kein Mensch Gott loswerden kann. Der Theologe und Jesuit Karl Rahner (1904–1984) bringt diese Grundannahme in Verbindung mit einem mystagogischen Handeln, weil er wie alle Mystikerinnen und Mystiker davon ausgeht, dass Gott als tiefes Geheimnis in jedem Menschen wohnt und wirkt. Mystagogie bedeutet für ihn eine Hinführung zu diesem Geheimnis, indem wir einander aufzeigen, wo immer wir mit diesem Urgrund unseres Lebens mitten im Alltag in Berührung gekommen sind. Mystagogie als Aneignung (nicht Verordnung) des Glaubens findet sich schon im Jahre 350 nach Christus in den mystagogischen Katechesen des Cyrill von Jerusalem. Er hatte ein feines Gespür für die Einmaligkeit und Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Eine Hinführung zum christlichen Glauben muss darum die Persönlichkeit des Einzelnen mit seinen Bedürfnissen und seinem soziologischen Hintergrund ernst nehmen, damit eine reflektierte Verbindung zwischen dem Einzelnen und der christlichen Tradition und Liturgie aufgezeigt und verinnerlicht werden kann. Kirchliche Gemeinschaft kann Gott nicht haben, sondern ihre Aufgabe besteht darin, ihn mit anderen zu suchen, freizulegen, zu hinterfragen, zu finden und zu feiern.
Spirituelle Menschen erinnern einander alltäglich daran, dass unsere menschliche Existenz zutiefst verbunden und eingebunden ist in die göttliche Gegenwart, die spürbar ist und uns zugleich übersteigt. In der Zusage, gesegnet zu sein vor allem Tun, wehren sich mystische Menschen gegen eine angstmachende Religion, die Menschen aufzeigen will, wann Gott zu ihnen kommt und wann nicht. Er kommt all unserem Tun mit seinem Segen, mit seiner Gnade zuvor, weil das Wesentliche im Leben immer ein Geschenk bleibt. Mystische Menschen denken groß vom Menschen, weil er fähig ist, sich verwandeln zu lassen, um immer mehr werden zu können, wie er oder sie von Anfang an gemeint ist: Abbild Gottes. Diese biblische Grundaussage entfalten Mystikerinnen und Mystiker in vielen Symbolen, Urbildern und lebensbejahenden Worten.
Den göttlichen Urklang hören: Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen (1098–1179), Äbtissin, Apothekerin, Dichterin, Komponistin, Prophetin, Heilkundige, Visionärin, Naturforscherin, ist überzeugt, dass Gott uns ins Gesicht schaut und wir ihm gut gefallen. Dieses Ansehen befreit, und weil es allen Menschen gilt, besteht unsere Aufgabe darin, aufeinander Rücksicht zu nehmen, besonders auch auf die Schöpfung, weil in ihr Gottes heilender Geist atmet. Wir Menschen sind eine Leib-Geist-Seele-Einheit, ein »Spiegel aller Gotteswunder«.
Diese Hoffnung belebt sie und sie unternimmt viele beschwerliche Reisen, um sich mit kämpferischen Worten für eine ganzheitliche Spiritualität einzusetzen, die einen leibfeindlichen Dualismus überwindet. Ein gesunder Lebensstil gehört für sie zur täglichen Lebensaufgabe, der auch Verletzlichkeit und Verwundbarkeit beinhaltet, weil wir in uns »nicht nur Himmlisches« suchen sollen. Ihre schöpfungszentrierte Spiritualität bestärkt uns, psychosomatische Zusammenhänge zu erkennen, damit wir auch an Krankheiten wachsen und reifen können. Zugleich ermutigt sie uns, unsere Endlichkeit anzunehmen, weil unser Gesegnetsein von der Ewigkeit erzählt, die schon im Hier und Jetzt erfahrbar wird und uns verbindet mit allem.
Hildegard ist in ihrem Leben oft krank gewesen, sie weiß um unsere Zerbrechlichkeit. Wie die meisten Mystikerinnen und Mystiker hat sie von ihren inneren Erfahrungen aus einer inneren Notwendigkeit geschrieben, damit aus unseren Schwächen, unseren wunden Punkten Stärken entstehen können. Leidenschaftlichkeit gehört für sie wesentlich zu unserem Menschsein, damit unsere Verwundbarkeit nicht überspielt wird und unser sprühendes Leben nicht unterdrückt wird. Tiefster Grund dieser Hoffnung ist das Christusereignis, das von einem menschgewordenen Gott erzählt, der uns sichtbar werden lässt, was in unserem innersten Seelengrunde angelegt ist: »ein Verlangen nach dem Kusse Gottes«. Dieses intim-dialogische Geheimnis ist nicht nur sehr persönlich, sondern hat zugleich eine kosmische Dimension. Da sein können, einfach leben, innehalten und verweilen im Augenblick wird zur Lebensaufgabe, weil wir sinnstiftend erleben können, wie die ganze Schöpfung und der Kosmos »vom Kuss des Schöpfers« belebt wird.
Diese verbindende Wirklichkeit beschreibt Hildegard in musikalischen Bildern. Die Seele trägt die Symphonie Gottes in sich, sie »hat in sich einen Wohlklang und sie ist selber klingend«. Alles ist ein »Urklang aus der Ordnung Gottes«. In der Kraft des Daseins und des Verweilens können wir die göttliche Schwingung wahrnehmen, die uns zum Innehalten bewegt, weil wir alle viel mehr sind als unsere Leistung. Als sensible Menschenkennerin verschweigt Hildegard von Bingen zum Glück nicht, dass wir beim Horchen auf die himmlische Harmonie auch mit unseren Verstimmtheiten konfrontiert werden.
Hildegards Menschen- und Gottesbild ist nicht statisch, sondern dynamisch und prozessorientiert, wie bei allen Mystikerinnen und Mystikern. Es ist...