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E-Book

Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne

Über die Liebe, die Trauer und das Ich

AutorPaul Broks
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783406742231
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
'Du weißt nicht, wie kostbar das Leben ist. Du denkst, Du weißt es, aber Du weißt es nicht.' Als die Frau des angesehenen Neuropsychologen Paul Broks an Krebs stirbt, gibt sie ihm diese Worte mit auf den Weg. Ihr Tod stürzt ihn in eine tiefe Lebenskrise. Er verkauft sein Haus, quittiert seinen Job und begibt sich auf die lange Reise zurück ans Licht. Doch während er versucht, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen, beobachtet sein professionelles Ich aufmerksam alles, was er denkt und tut...
'Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne' ist ein ungewöhnliches Buch über Liebe und Trauer, Gehirn, Geist und Bewusstsein. Es passt in keine Schublade, denn es verbindet die eigene Erfahrung von Verlust, Hinnahme und Erneuerung mit Streifzügen durch die Philosophie und Fallgeschichten aus der klinischen Psychologie. Dabei lotet Broks immer wieder neu und oft überraschend die Frage aus, was eigentlich jenes Selbst ist, das unser Menschsein ausmacht. Scharfsinnig, weise und witzig ist 'Je dunkler die Nacht' eine grandios geschriebene Meditation über den unergründlichen Sinn des Lebens.

Paul Broks ist klinischer Neuropsychologe. Sein erstes Buch "Ich denke, also bin ich tot. Reisen in die Welt des Wahnsinns" wurde von der Presse hochgerühmt.

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Leseprobe

Der sonnendurchflutete Raum


Bfff …

Das Beatmungsgerät atmet aus. Es läuft den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch. Meine Frau atmet aus, es klingt wie ein schicksalsergebenes Seufzen. Es ist sechs Uhr abends, und sie hat ihre Augen heute noch nicht geöffnet oder ein Wort gesprochen. Dieser Tag, zwischen ihrem Geburtstag und unserem Hochzeitstag, ist der Tag, an dem sie stirbt. Gestern haben die Jungs und ich ihre Lippen mit grünem Tee benetzt, und sie lächelte. Aber heute nicht. Noch ein langer Seufzer. Ihr letzter Atemzug? Noch nicht. Es folgt noch einer und noch einer. Und dann keiner mehr. Der letzte ist wie eine Welle, die auf dem Sand ausläuft. Das Beatmungsgerät arbeitet noch immer. Ich streife den Ehering vom toten Finger meiner Frau und umschließe ihn mit meiner Faust. Die Maschine atmet aus. Ich atme aus. Er hat kaum je einen Atemzug verpasst, dieser Ring. Ich stelle das Gerät ab. Kate liegt da, überströmt vom Licht der Abendsonne, während sich die Haut an ihren Armen durch das versackende Blut bereits blau verfärbt.

Es war der Tag der Herbst-Tagundnachtgleiche, der 23. September. Die Sonne hatte den Himmelsäquator durchquert, und unser letzter Sommer lag hinter uns. Perfektes Timing. Sie könne keinen Winter mehr durchstehen, hatte sie gesagt. In dieser Nacht war Vollmond. Ich stand im Hinterhof. Ich nahm einen Schluck Whisky, und ich dachte: Was nun? Wir hatten in diesem Sommer viel über dieses was nun gesprochen, da wir ja wussten, dass der Tod nahe bevorstand. «Du wirst zurechtkommen», sagte sie immer, «ich mache mir keine Sorgen um dich». Ich hätte noch so vieles vor mir. Es würde eine Erlösung sein.

«Und es wird jetzt nicht mehr lange dauern.»

«Hm, dann muss es wohl so sein.»

«Aber ich werde dir etwas sagen. Du weißt nicht, wie wertvoll das Leben ist. Du denkst, du wüsstest es, aber du weißt es nicht.»

Ich konnte schlecht mit ihr streiten. Sie starb ja. Was wusste ich schon? Und im Rückblick war es ein guter Sommer, trotz allem: quälend und durch und durch traurig, aber nicht trostlos, und immer wieder gab es außergewöhnliche Momente des Glücks. Das rechtfertigte unsere Entscheidung. Genau 100 Tage vor ihrem Tod saßen wir in einem anderen sonnendurchfluteten Raum des Krankenhauses. Ein Arzt erklärte uns, dass der Krebs so gestreut habe, dass es keine Hoffnung mehr gebe, ihn einzudämmen. «Wie lange noch?» fragte Kate, und wagte ihre eigene Einschätzung: «Sechs Monate?» Aber es entstand eine Pause, bevor der Arzt antwortete: «Vielleicht.» Das Beste, was er uns anbieten könne, die allerletzte Maßnahme, sei eine erneute Chemotherapie, die, wenn sie wirkte, ihr Leben um bestenfalls einige Monate verlängern könnte. Es würde die Art von Chemotherapie sein, bei der Haare und Fingernägel ausfallen, und bei der man sich wirklich elend fühlt. Wir wussten alles über Chemotherapie. Und die Chancen, dass sie anschlägt? «Eins zu fünf.» Wir müssten das nicht sofort entscheiden, sagte der Arzt, in der folgenden Woche würde es auch noch reichen, aber die Krankheit schreite rasch voran, und die Behandlung, falls wir sie wünschten, könne nicht viel länger aufgeschoben werden.

Auf der Heimfahrt waren wir uns einig, dass diese Entscheidung nicht zu spontan getroffen werden sollte. Wir würden sie mit Tom und Nat, unseren Söhnen, besprechen; wir würden das Für und Wider gegeneinander abwägen und so gut es ging mit den Ungewissheiten umgehen. Und in den darauffolgenden Tagen taten wir das. Wir trafen dazu keine festen Verabredungen. Die Diskussion entwickelte sich nach und nach beim Mittagessen auf der Terrasse, oder während wir am Meeresufer den Sonnenuntergang beobachteten oder in den ruhigen Stunden des frühen Morgens, und wir setzten die Fragmente forensisch zusammen. Es ist deine Entscheidung, sagten die Jungs. Wir unterstützen dich bei allem, was du tust.

Als wir wieder im Behandlungszimmer des Arztes saßen, sprach in meinem Kopf zunächst alles ziemlich klar gegen eine weitere Behandlung. Noch während der Arzt redete, ging ich die existentiellen Gleichungen durch. Ich stellte die Wahrscheinlichkeiten den Qualen und Entwürdigungen gegenüber, und ich konnte keinen guten Grund erkennen, das Leiden, das ohnehin schon schlimm genug war, noch zu verstärken und zu verlängern. Das Ende war nun unausweichlich und greifbar, mit oder ohne Behandlung. Besser, wir würden die letzten Tage nutzen, so gut es ging, und sie nicht an die Tortur der Chemotherapie verschwenden. Wenn die Behandlung nicht anschlug, was wahrscheinlich war, dann würde das nur bedeuten, das Leiden unermesslich zu steigern.

Ich behielt diese Gedanken in dem Moment für mich. Wenn Kate anderer Ansicht war, und ich hatte den Eindruck, dass sie es war, dann wollte ich nicht dagegen halten. Es war schließlich ihr Leben. Und bald schon betrachtete ich alles von der anderen Seite. Sie hatte in der Vergangenheit gut auf aggressive Chemotherapien angesprochen. Warum nicht auch diesmal? Und warum war der Arzt so zurückhaltend, so pessimistisch, was das Ergebnis betraf? Onkologie ist keine exakte Wissenschaft. Manchmal liegen die Ärzte in diesen Dingen arg daneben. Mir haben sie noch sechs Monate gegeben, hört man Leute sagen, und hier bin ich immer noch, fünf Jahre später, unverwüstlich! So fand ich Gründe, die für die Behandlung sprachen. Ich sagte, es wäre vielleicht einen Versuch wert. «Ich will nicht ohne Haare sterben», sagte sie. Rationale Überlegungen waren letztlich nicht so sehr das Entscheidende. Am Ende kam es darauf an, was sich richtig anfühlte.

Es gibt praktische Dinge, die man in den Minuten und Stunden nach einem Todesfall regeln muss. Ich rief einen Arzt, um den Totenschein ausstellen zu lassen, und ein leise sprechender Mann aus Ghana erschien. Ich fragte ihn, ob er mir ein Beerdigungsunternehmen empfehlen könne, denn, so bizarr es mir im Nachhinein erscheint, ich hatte mir darüber zuvor keine Gedanken gemacht. Der Arzt ging wieder an seine Arbeit, und ich rief den Genossenschaftlichen Bestattungsdienst an, und während wir auf dessen Mitarbeiter warteten, nahmen die Jungs und ich nacheinander Abschied. Ich streichelte ihr Haar. Als die Leiche weggebracht worden war, aßen wir – Tom, Nat und ich und Nats Frau Rosie – ein wenig Pasta und tranken dazu Wein. Wir sprachen über Kate. Ihr Tod fühlte sich unerwarteterweise wie eine Vollendung an. Es war, darin waren wir uns einig, ein friedliches, ein würdiges Ende, und das Leiden war vorbei. Ich schaffte es nicht, die Nacht in unserem, nein nur meinem Schlafzimmer zu verbringen, deshalb legte ich in Toms Zimmer eine Matratze auf den Boden. Ich las noch eine Weile Senecas Briefe an Lucilius über Ethik bevor ich schlafen ging, und ich schlief gut. Am nächsten Tag, unserem Hochzeitstag, ging ich mit Kates Ehering zu einem Juwelier, um ihn weiter machen zu lassen. Ich hatte ihr versprochen, dass ich ihn für den Rest meines Lebens tragen würde.

In den folgenden Tagen galt es, die Beerdigung zu arrangieren und Angaben für den Beamten zusammenzutragen, der das Geburten- und Sterberegister verwaltete. Als ich vor ihm stand, sagte er mir, dass er meinen Verlust bedaure, ein Satz, der ihm bestimmt 50 Mal pro Woche über die Lippen kommen musste, und dann gab er mir einen altmodischen Füllfederhalter, um einige Formulare zu unterzeichnen. Darauf folgte die Beerdigung, und das wars. Ein Leben wurde abgeschlossen; ein Tod dokumentiert.

Dann kamen die Erinnerungen hoch. Türen zu ungeahnten Räumen öffneten sich. Durch ein Fenster hindurch ein klarer Wintermorgen, durch ein anderes ein Sommernachmittag. Fragmente aus der Kindheit wirbelten umher wie Blätter in einem Windstoß. Schultage. Arbeit. Die ersten Jahre mit Kate. Ich öffnete die Hintertür, und da waren wir, wir standen in einem Wolkenbruch. Der Geruch von starkem Regen auf trockener Erde. Nass bis auf die Haut. Lebendig. Die Bilder kamen, ob ich es wollte oder nicht, anfallartig, als versuche mein Gehirn, Bedeutungsstränge zu sammeln, ohne «mich» dabei groß einzubeziehen, indem es Erinnerungen aufwühlte, sie durchstöberte, sondierte. Rekonstruierte. Wer bist du? Was nun?

Was nun? Keine Ahnung. Ich wanderte durch einen Nebel, ohne zu wissen, was mich erwartete, wenn die Sonne durchbrach. Wenn ich nicht mehr da bin, dann schau nach vorn und tu, was immer du tun musst. Aber was?...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch320
Über den Autor320
Impressum3
Widmung4
Inhalt6
Motto8
Vorwort10
TEIL EINS: Über die Trauer14
Der sonnendurchflutete Raum16
Das hölzerne Schwert21
Erkenne dich selbst23
Der Junge schläft, der Mann wacht26
Der Urknall und ein leises Flüstern34
Dieses Ding, mit dem man die Zeit macht35
Sternenstaub39
Autotopagnosie43
Schnappschüsse46
St. Yves50
Delphine53
Die Trostlosigkeit der Philosophie55
Die Entdeckung der Kopflosigkeit61
Der falsche Kopf62
Apophänie65
Die Schädelhöhle68
Das reiche Dickicht der Wirklichkeit69
Hallo, ist da jemand?72
Bessies Tagebuch76
Der große Pan78
Etwas Böses kommt daher83
Über die Trauer96
Der Botenvogel107
TEIL ZWEI: Tausend rote Schmetterlinge110
Tabula Rasa112
Egos und Bündel125
Tausend rote Schmetterlinge129
Der Bewusstseinsclub134
Verrottet bis ins Mark148
Den Traum leben157
Der Mythos des Sisyphos163
Das Problem mit dem Problem des Bewusstseins165
Tiger, Tiger186
Rot zappeln189
Unsterblichkeit196
Auferstehung197
Ein Goldregen202
Die Vergewaltigung des Mondes206
Die Aussicht vom Grund des Brunnens212
Außerirdische216
Magischer Brei221
Wahnstimmung222
Das Gehirn im Bauch229
TEIL DREI: Ins Labyrinth232
Oh, diese knurrenden Tiger234
Das Schiff des Theseus240
Es war einmal242
Die Gitarre247
Der Ring248
Die anarchische Hand251
Épater les bourgeois256
Herr Kafka260
Ich möchte Daddy töten262
Das Angebot des Besuchers aus dem All269
Frühlings-Tagundnachtgleiche270
Die Zigeunerin271
Slush Puppie- Psychose272
Körper und Geist278
Nicht ganz das richtige Universum282
Apophänie 2296
Ins Labyrinth297
Weiterführende Lektüre312
Ausgewählte Literatur314
Danksagung317

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