Einführung:
Wie sie wurde, was sie ist – 50 Jahre „Erfolgsgeschichte Europäische Union“
I. 25. März 1957
25. März 1957. In Rom ist Frühling. Auf dem Kapitol herrscht Hochbetrieb. Handwerker legen letzte Hand an. Den Platz schmücken Blumen und Flaggen. Carabinieri in Paradeuniformen ergänzen das Bild. Die Jugend Italiens hat schulfrei – kurzum: es ist ein besonderer Tag!
Für einen Tag ist die Ewige Stadt wieder die Hauptstadt Europas, präsentiert sich in festlichem Fahnenschmuck, sonnt sich in uralter Tradition – schließlich wurde von hier aus einst das Abendland regiert. „Die europäische Geschichte kehrt nach Rom zurück“ – so klingt es in italienischen Kommentaren.
Dann, um 18.00 Uhr, ist es so weit. Unter dem Geläut der berühmten Patarina, der 700-jährigen Glocke auf dem mittelalterlichen Turm des römischen Kapitols, unterzeichnen an einem langen, mit rotem Brokat bedeckten Tisch in dem mit Gobelins festlich ausgeschmückten Saal der Horatier und Curatier des Konservatorenpalastes sechs in elegantem Schwarz gekleidete Herren die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft. Unter ihnen ein eindrucksvoller älterer Herr, ein „Grandsigneur“ Europas und Architekt der Verträge, Dr. Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er ist der einzige Regierungschef in der Runde; die anderen fünf Unterzeichnerstaaten Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande lassen sich durch ihre Außenminister vertreten.
Zwei Jahre intensiven Verhandelns waren vorausgegangen. Im Mai 1955 hatten die Außenminister der sechs Staaten in Messina beschlossen, über eine Wirtschaftsunion schließlich zu einem – man höre und staune – auch politisch vereinigten Europa zu gelangen. Immerhin bewegt man sich von nun an Schritt für Schritt hin zu einem einheitlichen Markt für 160 Millionen Europäer.
Das Presseecho ist verhalten. Von einem „bedenklichen Weg nach Europa“ etwa ist die Rede, von einem „Ja trotz aller Bedenken“. Auch „Unterzeichnung am Tiber – Befürchtungen am Rhein“ klingt nicht euphorisch; deutlich markanter noch titelt das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ mit „Das Komplott von Rom“ (24. März 1957) oder gar mit „Spaltungsverträge unterzeichnet“ (26. März 1957).
Nahezu 60 Jahre ist das alles her. Ein geschichtliches Experiment ohne Beispiel ist gelungen. Seit über zwei Jahrzehnten – auch hierzu trugen die „Römischen Verträge“ bei – sind Kalter Krieg und Spaltung Europas in Ost und West Historie. Wohlstand und Frieden, Freiheit und Freizügigkeit von La Rochelle bis Riga: das sind Markenzeichen einer weit über die wirtschaftliche Kooperation hinausgewachsenen Gemeinschaft von heute 28 europäischen Ländern und Völkern, die sich seit 1993 nicht ohne Selbstbewusstsein „Europäische Union“ nennt.
II. Ein langer Weg
Rom wurde bekanntlich weder an einem Tag erbaut, noch markiert die damalige Vertragsunterzeichnung dort den Anfang aller Anfänge. Der Aufbau der heute 28 Mitgliedstaaten umfassenden „Europäischen Union“ – kurz: EU – begann Schritt für Schritt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die gedankliche Vorarbeit zu einem vereinten Europa reicht jedoch bedeutend weiter in die Vergangenheit zurück. Erinnert sei nur an Erasmus von Rotterdam, der bereits im 16. Jahrhundert über ein geeintes Europa philosophierte. Oder an Voltaire, der Europa 1751 als „eine Art große Republik“ beschrieb, „verteilt in verschiedene Staaten. . .“. Oder an den französischen Dichter Victor Hugo, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wohlgemerkt dem Jahrhundert der Nationalstaaten, von den zukünftigen Vereinigten Staaten von Europa träumte.
Paneuropäische Ideen und Europapläne gab es auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. 1923 etwa stellte Richard Graf von Coudenove-Kalergi in seinem Buch „Paneuropa“ als Antwort auf Krieg und Kriegsfolgen ein europäisches Einigungsprogramm mit dem Ziel Vereinigter Staaten von Europa vor. Er gründete die „Paneuropa-Union“, die ein beachtliches Echo in der Öffentlichkeit fand. Doch eine reale Chance erhielten solche Visionen erst nach den Verwüstungen und dem unvorstellbaren Leid, das der Zweite Weltkrieg über unseren Kontinent gebracht hatte.
III. Ideen – Pläne – Gründerzeiten
Berühmt wurde die Rede Winston Churchills, der am 19. September 1946 in Zürich erstmals die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa vorschlug – allerdings ohne Großbritannien einbeziehen zu wollen. Auch andere Politiker von Rang, wie etwa der Belgier Paul-Henri Spaak, der Italiener Alcide De Gasperi oder der Deutsche Konrad Adenauer, setzten sich für ein Zusammenwachsen Europas ein. 1948 bildete sich in Den Haag die Europäische Bewegung. Sie gab den Anstoß zur Gründung des Europarates in Straßburg am 5. Mai 1949.
Dem Europarat – übrigens nicht zu verwechseln mit dem „Europäischen Rat“, dem seit 1974 als ständige Einrichtung zweimal jährlich zelebrierten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der heutigen Europäischen Union! – trat 1950 die frisch entstandene Bundesrepublik Deutschland bei. Die Hoffnung, der Europarat sei nun der Anfang einer politischen europäischen Union, erfüllte sich nicht; zu groß waren die Meinungsunterschiede der Gründerstaaten über das zu verfolgende Konzept: Aufbau eines Bundesstaates, also einer Föderation, den USA nachempfunden? Oder besser nur eines losen europäischen Staatenbundes, einer Konföderation, die es den einzelnen Staaten erlaubt, ihre Souveränität unangetastet zu erhalten? Oder eine Einigung peu à peu, pragmatisch sozusagen und auf Gebiete beschränkt, die gewisse Erfolgsaussichten boten?
Als bahnbrechend erwies sich die am 9. Mai 1950 vom französischen Außenminister Robert Schuman verkündete Idee, die als „Schumanplan“ Furore machen sollte. Mit einer ebenso einfachen wie genialen Idee gab er den zentralen Anstoß zu einer friedlichen Einigung Europas nach den Schrecken des Krieges: er reichte dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland die Hand und schlug vor, diejenigen Industriezweige künftig zusammenzulegen, die sozusagen die Kanonen produziert hatten – nämlich die Eisen- und Stahlindustrie. Es war der Beginn einer Fusion der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion. Neben Deutschland und Frankreich stimmten auch Italien und die Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg diesem Plan zu. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz: EGKS oder auch Montanunion genannt, war geboren.
1957 gründeten diese sechs Staaten in Rom die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, kurz: EWG. Sie dehnten damit die gemeinsame Politik im Montanbereich auf Handel, Wirtschaft, Verkehr und viele andere Bereiche aus. Man versprach sich, innerhalb von zwölf Jahren einen gemeinsamen Markt bilden zu wollen. „Zollunion“ – so lautete von nun an das Zauberwort.
Zeitgleich und ebenfalls in Rom gründeten unsere sechs Pionierstaaten die „Europäische Atomgemeinschaft“, kurz: EAG oder auch Euratom. Diese beiden als „Römische Verträge“ wohlbekannten Gründungsakte traten am 1. Januar 1958 in Kraft. Seinerzeit schon sah man sie lediglich als ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einer politischen Einigung Europas an. In der Präambel zum EWG-Vertrag vom 25. März 1957 bekundete man den „festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.
IV. Süd-, Nord-, Ost- – Erweiterungsrunden und offene Grenzen
Was dann folgte, kann man mit Fug und Recht als historisch beispiellose Erfolgsgeschichte bezeichnen. Aus sechs Staaten wurden neun, aus neun wurden zehn, dann sogar zwölf: Zum 1. Januar 1973 traten Dänemark, Irland und Großbritannien bei, zum 1. Januar 1981 Griechenland. Portugal und Spanien folgten zum 1. Januar 1986.
Unter dem neuen Etikett „Europäische Gemeinschaft“ (EG) bewegten sich die zwölf mit erheblichem Tempo auf einen großen gemeinsamen Binnenmarkt für seinerzeit 323 Millionen Menschen zu. Am 1. Januar 1993 wurde er Wirklichkeit; die Zollschranken fielen, Grenzkontrollen gehörten der Vergangenheit an. Der „Binnenmarkt 92“ eröffnete ungeahnte Chancen für den, der rasch lernte, mit den neuen Marktdimensionen umzugehen. Er barg auch Risiken, die ein solcher Markt für nahezu alle Wirtschaftszweige, für Ausbildungsprofile, Auftragswesen, Dienstleistungsmärkte oder Verbraucherbelange mit sich bringt.
Mit dem Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens zum 1. Januar 1995 erreichte unser – inzwischen als „Europäische Union“ firmierender – Staatenverbund dann eine Ausdehnung, die die mögliche Zahl goldener Sterne auf der tiefblauen Europafahne sprengte; fünfzehn Mitgliedstaaten, aber es blieb bei nur zwölf Sternen – aus Platzgründen.
Allerdings sei auch an die politische Dimension erinnert, die dieses solide Einigungswerk unseres über Jahrhunderte zerstrittenen Kontinents ausstrahlte – nicht zuletzt mehr und mehr auch auf die Staaten Mittel- und Osteuropas, und dies zu einer Zeit, als man dort von Selbstbestimmung kaum zu träumen wagte. Je durchlässiger die Grenzen zwischen den Staaten Westeuropas wurden, je mehr die...