2 Kriminalpsychologie
Bereits in Kapitel 1 wurde aufgezeigt, dass die Rechtspsychologie in zwei Bereiche aufgegliedert werden kann. Im Folgenden wird zunächst die Kriminalpsychologie betrachtet, um in den anschließenden Kapitel 3 bis 8 auf die Forensische Psychologie näher einzugehen.
In diesem Kapitel lernen Sie die Definition und den Gegenstandsbereich der Kriminalpsychologie kennen ( Kap. 2.1). Sie bekommen einen Überblick über die Häufigkeit und die Entwicklung von straffälligem Verhalten ( Kap. 2.2). Des Weiteren erhalten Sie eine Einführung in die wichtigsten Kriminalitätstheorien aus der Kriminologie, Soziologie, Medizin und Psychologie sowie in die Entwicklungspfade dissozialen Verhaltens. Darüber hinaus werden die Theorien zur Entstehung von Aggression, Gewalt und Sexualdelinquenz erläutert. Abschließend erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der »kriminellen Persönlichkeit« ( Kap. 2.3).
2.1 Definition und Abgrenzungen
Definition
Die Kriminalpsychologie beschäftigt sich mit Theorien und empirischen Befunden zur Entstehung und Aufrechterhaltung von dissozialem und kriminellem Verhalten.
Die Aspekte der Kriminalprävention, die auch der Kriminalpsychologie zuzuordnen ist, werden in Kapitel 11 gesondert vertieft. Bevor eine ausführliche Auseinandersetzung mit den genannten kriminalpsychologischen Feldern stattfindet, betrachtet der nächste Abschnitt die Häufigkeit und die Entwicklung von Kriminalität.
2.2 Häufigkeit und Entwicklung von straffälligem Verhalten
Verfolgt man die Medienberichterstattung, so scheint die Kriminalität in den letzten Jahren stark zugenommen zu haben. Insbesondere kann man den Eindruck gewinnen, dass Sexual- und Gewaltkriminalität deutlich häufiger vorkommt als noch im letzten Jahrtausend. Lassen Sie uns gemeinsam schauen, ob das wirklich der Fall ist. Dafür werden vor allem statistische Erhebungen und Dunkelfeldanalysen geprüft. Jedes Jahr wird die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) herausgegeben. Diese können Sie einfach im Internet recherchieren und sich herunterladen (z. B. www.bka.de).
In der PKS finden sich Daten der letzten Jahre über das sogenannte »Hellfeld « ( Abb. 2.1). Es werden strafrechtlich relevante Taten oder Verhaltensweisen aufgenommen bzw. erfasst, die offiziell gemeldet, zur Anzeige gebracht oder ermittelt wurden. Unterschieden werden kann in der PKS zwischen der Anzahl der offiziell bei der Polizei gemeldeten Fälle, der ermittelten Tatverdächtigen, der aufgeklärten Fälle (durch die Polizei) und schließlich der rechtskräftig verurteilten Personen. In dieser Reihenfolge sinkt die Zahl der Fälle sehr deutlich (vgl. Bosinski, 2002). Das bedeutet, dass von den gemeldeten Fällen oftmals (je nach Deliktbereich unterschiedlich) nur ein Bruchteil abgeurteilt wird. Entsprechend müssen einzelne Statistiken ganz unterschiedlich interpretiert werden und die Zahlen können erheblich variieren.
In das relative Dunkelfeld fallen all jene Verhaltensweisen, die als Kriminalität zu bezeichnen sind (also gegen das Strafgesetzbuch verstoßen; Abb. 2.1) aber offiziell nicht erscheinen. Beispielsweise wenn häusliche Gewalt vorliegt (ein Mann schlägt seine Ehefrau), aber keine Anzeige erfolgt. Das relative Dunkelfeld wird wesentlich größer sein, als das sich in der PKS widerspiegelnde Hellfeld. Untersuchungen (z. B. Wetzels, 1997) haben ergeben, dass beispielsweise irgendein erlebter sexueller Missbrauch im Leben bei Frauen in der Größenordnung von ca. 18 % liegt. Eine »erschreckend« hohe Zahl, die weit über den offiziellen Zahlen der PKS (also dem Hellfeld) liegt. Allerdings gibt es darüber hinaus auch das absolute Dunkelfeld, das man weder mit der Hell- noch mit der Dunkelfeldforschung erfassen kann ( Abb. 2.1). Daraus lässt sich schließen, dass viel über die Häufigkeit von kriminellem Verhalten und seine Veränderung über die Zeit bekannt ist; aber dennoch gibt es einen »blinden« Fleck. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Forschung und schränkt die Aussagekraft von offiziellen Statistiken deutlich ein. So weiß man beispielsweise nicht sicher, ob bei einem Absinken der Zahlen in der PKS die Kriminalität wirklich weniger geworden ist oder ob die Verringerung lediglich u. a. durch ein verändertes Anzeigeverhalten zustande gekommen ist (bei gleichbleibendem Dunkelfeld).
Abb. 2.1: Dunkel- und Hellfeld der Kriminalität (Darstellung in Anlehnung an die PKS)
Sehen Sie sich jetzt die Kriminalitätsentwicklung (PKS) über die letzten Jahre und Jahrzehnte an. Die Abbildung 2.2 zeigt, dass sich die Kriminalität allgemein seit der deutschen Wiedervereinigung weitgehend konstant gehalten hat (unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl), mit leichter Tendenz nach unten. Hingegen hat sich in den letzten 20 Jahren das Hellfeld der Köperverletzungsdelikte deutlich erhöht ( Abb. 2.3). Das lag aber vor allem an einem starken Anstieg der leichten Körperverletzung. Die schwere und gefährliche Köperverletzung hingegen hat in den letzten Jahren sogar leicht abgenommen. Der Blick auf die Zahlen zu Tötungsdelikten (Mord und Totschlag) in der Abbildung 2.4 fasst die Zahlen (auch der versuchten Taten) zusammen. Es zeigt sich, dass diese schwerwiegenden Delikte in den letzten 20 Jahren sogar leicht zurückgegangen sind.
Wenn man sich mit den Sexualdelikten beschäftigt, ist eine relativ stabile Entwicklung über die letzten 20 Jahre zu sehen ( Abb. 2.5). Insbesondere haben die sexuell motivierten Tötungsdelikte deutlich abgenommen ( Abb. 2.6). Aber selbstverständlich ist jedes Gewalt- und Tötungsdelikt oder jede Vergewaltigung eines zu viel!
Es bleibt abschließend festzuhalten, dass man in Deutschland weiter an einer Verringerung der Straftatzahlen stetig arbeiten muss, jedoch spiegelt sich das Bild der Medien von einem deutlichen Anstieg der Kriminalität nicht in den Daten wieder.
Abb. 2.2: Kriminalitätsentwicklung allgemein (PKS)
Wie aufgezeigt ist die allgemeine Kriminalitätsentwicklung in den letzten 20 Jahren weitgehend stabil geblieben, auch wenn die Zahlen in den einzelnen Deliktbereichen natürlich
Abb. 2.3: Gewaltkriminalität (Körperverletzung; PKS)
Abb. 2.4: Gewaltkriminalität (Mord und Totschlag; PKS)
variieren. Beim Blick auf die Belegungsraten des Straf- und Maßregelvollzuges muss neben der zuvor skizzierten Kriminalitätsentwicklung auch die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland beachtet werden. Schon alleine aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge müsste es zu einem Rückgang der Kriminalitätshäufigkeit und der Inhaftierungszahlen kommen. Personen oberhalb des 50. Lebensjahres begehen nämlich deutlich weniger Straftaten als jüngere Menschen. Die Tabelle 2.1 zeigt, dass die Belegungsrate des Strafvollzuges bei Männern und Frauen leicht abgenommen hat, hingegen ist die Anzahl der Sicherheitsverwahrten von 183 Personen im Jahr 1995 auf 533 im Jahr 2010 gestiegen. Dieser Anstieg von
Abb. 2.5: Ausgewählte Sexualdelikte (PKS)
Abb. 2.6: Häufigkeit von sexuell motivierten Tötungsdelikten in Deutschland (PKS 1971 bis 2009)
Sicherungsverwahrten ist sicherlich auf den veränderten sozialpolitischen Umgang mit (sexuell motivierten) Gewaltstraftätern und der geänderten Gesetzgebung zurückzuführen. Eher unwahrscheinlich ist dieser Anstieg nur damit zu begründen, dass die Straftäter immer gefährlicher werden.
Tab. 2.1: Belegungsraten des Strafvollzuges zwischen 1995 und 2012
Straftäter, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung vermindert oder ganz schuldunfähig waren ( Kap. 3) werden bei weiterer zu erwartender Gefährlichkeit im Maßregelvollzug (Forensische Psychiatrie) zur Behandlung untergebracht und können erst nach erfolgreicher Genesung sowie positiver Legalprognose (einem geringen Rückfallrisiko) entlassen werden. Diese Aspekte können forensisch-diagnostisch u. a. von Rechtspsychologen im Gerichtsverfahren festgestellt werden. Seit 1990 hat sich die Belegung des Maßregelvollzuges bis heute nahezu verdoppelt und die Gesamtzahlen verdreifacht ( Tab. 2.2). Wahrscheinlich sind Straftäter nicht wirklich psychisch »kränker« geworden, sondern hier hat sich auf Basis der sozialpolitischen Entwicklungen möglicherweise eine konservativere Gutachterpraxis...