DAS BIOPSYCHOSOZIALE MODELL DER RÜCKENPROBLEME
2.1EINLEITUNG
2.1.1DIE KOMPLEXITÄT DER URSACHEN VON RÜCKENPROBLEMEN
Bevor wir den wahren Ursachen von Rückenproblemen auf den Grund gehen, muss uns klar sein, dass sowohl einige unserer bisherigen Vorstellungen und Kenntnisse als auch gängige Volksweisheiten dabei herausgefordert werden können. Dass neue Ansichten und Erkenntnisse nicht immer bedeuten, dass sie der endgültigen Wahrheit entsprechen, ist dabei genauso klar, wie die Tatsache, dass der individuelle Blickwinkel und die persönlichen Erfahrungen, die Überzeugung von einer bestimmten Theorie beeinflussen. Das ist mir auf meiner Suche nach den wahren Ursachen von Rückenproblemen besonders bewusst geworden, da viele Experten oftmals komplett konträrer Ansichten waren, die auf den eigenen Qualifikationen und den Erfahrungen mit bestimmten Klientengruppen basierten.
So sehen z. B. einige Experten die ständige Beugung der Wirbelsäule (Rundrücken oder Beckenaufrichtung) als Hauptursache der Rückenprobleme bei den meisten Menschen, andere die ständige Überstreckung (Hohlkreuz oder Beckenkippung). Oder der eine empfiehlt Rückenschmerzpatienten, bei Bewegungen unbedingt ihre Rumpf- und Rückenmuskulatur anzuspannen und ein anderer hat erkannt, dass gerade diese ständige Kokontraktion bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen die Problematik aufgrund der höheren Druckbelastung der Bandscheiben noch verschlimmert und ihnen deshalb eher das Entspannen dieser Muskulatur beigebracht werden sollte.
Sie werden wohl alle irgendwo recht haben, aber wir werden in diesem Buch lernen, dass eine Pauschalisierung auf die Gesamtbevölkerung nicht möglich ist und die alleinige Berücksichtigung dieser physiologischen Parameter auch nicht ausreicht, um Rückenprobleme eindeutig erklären zu können. Im Endeffekt zählt die Berücksichtigung verschiedenster Ansätze und das Auswählen einer individuell passenden Strategie, die es möglich machen, eine optimale und nachhaltige Lösung für die Probleme des Einzelnen zu finden.
Zunächst sollte dafür aber erst einmal verstanden werden, dass in etwa 90 % der Fälle Rückenschmerzen unspezifisch sind. Das heißt, sie sind nicht auf eine spezielle Ursache zurückzuführen. Bei lediglich etwa 10 % liegen eindeutige, unmittelbare Ursachen, wie zum Beispiel Nervenwurzelschädigungen, Wirbelbrüche oder Tumore, vor. Es ist demnach in dem Großteil der Fälle nicht einmal klar, dass die vom Arzt gestellte Diagnose, wie z. B. der Bandscheibenvorfall, Skoliosen oder Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule, der eindeutigen und einzigen Ursache der Probleme entspricht.
Insbesondere bei chronischen oder wiederkehrenden Rückenproblemen sind die Ursachen daher ungewiss. Denn es wurde in Studien sogar herausgefunden, dass bei mindestens 30 % der Menschen ohne jegliche Rückenprobleme Bandscheibenvorfälle vorzufinden sind. Ein Bandscheibenvorfall kann somit nicht mit dem Auftreten von Rückenschmerzen gleichgesetzt werden und daher auch nicht als einzige Ursache für Rückenschmerzen angesehen werden. Um daher den wahren Ursachen von Rückenproblemen näherzukommen, bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen.
2.1.2DAS BIOPSYCHOSOZIALE MODELL
Ein solcher ganzheitlicher Erklärungsansatz, der in den letzten Jahren in der Wissenschaft immer populärer wurde, ist das eingangs erwähnte biopsychosoziale Modell des US-amerikanischen Psychiaters George L. Engel (Egger, 2015). Es erweitert unser bisheriges biomedizinisches Verständnis des „Menschen als komplexe Maschine“ zu einem „Menschen als körperlich-seelisches Wesen in seinen sozioökologischen Lebenswelten“.
Demnach müssen zur Beurteilung der Ursachen von Krankheiten stets Aspekte auf drei verschiedenen Ebenen berücksichtigt werden: der biologischen, der psychologischen und der sozialen Ebene. Alle Faktoren einer jeden Ebene stehen dabei stets in Wechselwirkung mit den Faktoren der anderen beiden Ebenen.
Dieses Modell basiert auf der Theorie (vereinfacht dargestellt), dass Gesundheit nicht einfach das Fehlen von Krankheit bzw. einer Störung ausmacht, sondern als ein dynamischer Prozess anzusehen ist, bei dem der Körper in jeder Sekunde versucht, auftretende Störungen zu bewältigen, um seine Funktionstüchtigkeit sicherzustellen. Wird er aufgrund fehlender Ressourcen oder mangelnder Bewältigungskompetenzen überfordert, entsteht ein „krankhafter“ Zustand.
Es löst damit die Psychosomatik insofern ab, als dass es nun nicht mehr entweder psychosomatische oder nicht psychosomatische Krankheiten gibt, sondern für jeden Krankheitsprozess jede der drei Ebenen mit zu berücksichtigen ist.
Dieses Modell wird vor allem auch für die Ursachen unspezifischer Rückenprobleme mittlerweile von Physiotherapeuten, der Bundesärztekammer und weltweit führenden Rückenexperten anerkannt. Auch Universitäten lehren bereits nach diesem Modell und angehende Physiotherapeuten bekommen heutzutage stets auch ein Verständnis für psychosoziale Ursachen vermittelt. Aufgrund dieser Entwicklungen stellt das biopsychosoziale Modell auch die Basis dieses Buchs dar.
Ein biologischer Faktor, sei es eine degenerative Abnutzung der Bandscheiben, ein Bandscheibenvorfall oder eine Skoliose, ist lediglich wie ein Zündholz zu sehen, welches unter ungünstigen Bedingungen (angehäufte biopsychosoziale Faktoren) schnell ein Feuer entfachen kann. Solche biologischen Faktoren weisen die meisten Menschen unserer Bevölkerung auf und sind daher als etwas ganz „Normales“ anzusehen. Ohne die sonstigen ungünstigen Bedingungen kann es sein, dass es, wie bei den 30 % der Menschen mit Bandscheibenvorfällen, aber ohne Symptomatik, nie zur Entstehung eines Feuers kommt. Falls doch, kann es oftmals alleine durch das Verbessern dieser ungünstigen Bedingungen schnell wieder gelöscht werden, ohne dass das Zündholz dafür entfernt werden muss.
Diese ungünstigen biopsychosozialen Faktoren können psychische Belastungen, soziale Überforderungen oder auch physische Überbeanspruchungen sein. Da so viele Faktoren eine Rolle spielen können, ist es oftmals zu beobachten, dass, je nachdem, wer sich die Problematik anschaut, verschiedenste Ursachen hierfür benannt werden. Schaut sich z. B. ein Chiropraktiker den Rücken an, wird ihm die „Fehlstellung“ der Wirbel auffallen und er diese korrigieren wollen, ein Physiotherapeut schaut sich eher das verspannte Gewebe an und versucht, dieses zu lockern, ein Zahnarzt erkennt, dass die Fehlstellung des Gebisses die Ursache der Probleme darstellt und ein Psychologe sieht im Dauerstress und in bestimmten Ängsten die Ausgangsproblematik.
Der menschliche Körper besteht aus verschiedensten Systemen, die jeweils eine Vielzahl bestimmter Funktionen besitzen und miteinander interagieren. Zu diesen Systemen gehören unter anderen:
a)das Nervensystem,
b)das Herz-Kreislauf-System,
c)das Hormonsystem,
d)das Magen-Darm-System,
e)das Immunsystem,
f)das Muskelsystem,
g)das Skelettsystem oder das
h)Fasziensystem.
Da diese Systeme einander beeinflussen und Störungen in einem System, Störungen in anderen Systemen bedingen können, ist es wichtig, zu verstehen, dass ein einzelnes System nicht alleine verantwortlich für Symptome wie Rückenschmerzen gemacht werden kann.
Auf der anderen Seite bedeutet dies, dass Verbesserungen in einem auch Verbesserungen in anderen Systemen bewirken können. So lassen sich beispielsweise im Skelettsystem Störungen finden, welche sich negativ auf das Fasziensystem auswirken. Auch wenn wir, wie z. B. bei degenerativen Abnutzungen der Wirbelsäule, durch einen Eingriff oder Ähnliches hier keine Verbesserungen mehr erzielen können, kann eine Verbesserung der Elastizität des Fasziensystems sich dennoch auch positiv auf die Knochen der Wirbelsäule auswirken.
Solche Interaktionen existieren auch innerhalb der drei Ebenen des biopsychosozialen Modells. Hier kann insbesondere der psychosoziale Disstress negative Auswirkungen auf alle genannten physisch-biologischen Systeme haben. Oftmals ist es auch erst die Kombination von Faktoren auf den verschiedenen Ebenen, die zur Schmerzentstehung führen kann. So kommt es häufig bei einer vermeintlich ungünstigen Bewegung nur dann zum Hexenschuss, wenn wir uns gleichzeitig in einem sehr gestressten Gemütszustand befinden.
Da Rückenprobleme demnach einem Zusammenspiel vielfältiger, ungünstiger Ursachen unterliegen, möchte ich an dieser Stelle ein Modell vorstellen, mit welchem sich diese Vielfalt veranschaulichen lässt.
Abb. 2.1: Das Fassmodell der...