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E-Book

Die Amerikafalle

oder: Wie ich lernte, die Weltmacht zu lieben

AutorMartin Amanshauser
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783218011228
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Benin, Goa, Kirgisistan: Man könnte meinen, Martin Amanshauser habe schon alles gesehen und erlebt. Als es ihn mit Kind und Kegel für ein halbes Jahr in die Universitätsstadt Bowling Green, Ohio verschlägt, erwartet ihn daher eine Überraschung: Die Amerikafalle schnappt zu. Ob obligatorischer Autokauf, das Abholen der Kinder von der Schule, auf Lesereise oder beim Super Bowl-Fernsehabend: Alles ist gleichermaßen vertraut wie befremdlich. So sehr Amanshauser der Skeptiker bleiben will, der er ist - allmählich bringen ihn die ebenso unerschütterlich freundlichen wie enervierend prinzipientreuen Menschen dazu, sich in dieses widersprüchliche Land zu verlieben. In 15 Jahren als Autor und Reisejournalist hat sich Martin Amanshauser das Staunen bewahrt. Sein Blick auf die USA unter Präsident Trump ist liebevoll-entlarvend. Mit feiner Ironie beobachtet er nicht nur die Eigenheiten seiner Umgebung, sondern auch die Mischung aus Sturheit und Faszination, mit der er selbst sich darin bewegt. 'Die Amerikafalle' ist eine Nah- und Momentaufnahme der USA im Umbruch und eine Liebeserklärung an ein Sehnsuchtsland, das mit Europa viel verbindet und doch grundlegend anders ist.

Martin Amanshauser wurde 1968 in Salzburg geboren und lebt in Wien. Er arbeitet als Autor, Übersetzer aus dem Portugiesischen und Journalist, u.a. für die 'Süddeutsche Zeitung'. Für die Freitagsbeilage der 'Presse' verfasst er die wöchentliche Reisekolumne 'Amanshausers Album'. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, schreibt er Romane, Lyrik und Sachbücher. Zuletzt erschienen bei Deuticke sein Roman 'Der Fisch in der Streichholzschachtel' (2015) und bei Picus das Kinderbuch 'Pedro und der Drachen' (2016) sowie 'Typisch Welt - 111 Geschichten zum weiter reisen' (2016).

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Leseprobe

3. Südlich von Toledo


Als der Manufacturing Belt eines Tages zu rosten begann


Urbane, gebildete US-Bürger sprechen über den Bundesstaat Ohio vor allem abwertend. Ich hingegen verbinde zunächst keine Gefühle mit ihm. Ehrlich gesagt hätte ich Ohio vorher auf einer Landkarte nördlich von Oklahoma verortet. Ich wusste nichts – außer der Geschichte des jungen Gitarristen Ed Crawford. Er soll eines Tages bei den beiden übrig gebliebenen Bandmitgliedern der Gruppe Minutemen aufgetaucht sein, mit den Worten, er sei »Ed from Ohio«, was bei ihnen für Schmunzeln sorgte. Obwohl sie keine neue Band geplant hatten, ließen sie sich von seiner Begeisterung anstecken, woraus fIREHOSE entstand.

Seitdem galt Ohio bei mir als hinterwäldlerisch. So falsch war der Gedanke nicht. In den schlammigen Resten des glazialen Sumpfs im Überschwemmungsgebiet des Eriesees wucherten einst Platanen, Zedern, Eschen und Ulmen. Wegen der Unüberwindlichkeit dieser wetlands lebten in dem unbesiedelbaren Gebiet keine Indigenen. In einem Reisebericht aus dem späten 18. Jahrhundert lese ich, »man and horse had to travel mid-leg deep in mud«. Für 50 Kilometer brauchte man drei Tage. Das Feuchtgebiet reichte bis tief nach Indiana. Dort, wo sich früher der Limberlost Swamp erstreckte, wurde vor zwanzig Jahren ein Nachfolgesumpf wiedererweckt: die Loblolly Marsh Nature Preserve.

In Ohios Norden blieb nach der Trockenlegung des 4.000 Quadratkilometer großen Great Black Swamp im 19. Jahrhundert spärlich Wald übrig. Neben einem Naturdenkmal verschwand auch die endemische Malaria. Die Drainagemaßnahmen dauerten mehrere Jahrzehnte, die feuchten Prärien wandelten sich zu Farmland. Auf den Äckern wachsen heuteWeizen, Mais und Soja.

Im Süden Ohios lebten, als die Europäer kamen, die Fort Ancient People. Schon vor ihrem Kontakt mit den Einwanderern starben viele von ihnen an den neuen, von indigenen Händlern übertragenen Krankheiten. Nach ihrem Verschwinden beanspruchten Irokesen das Land, multi-ethnische Gruppen, die ins Landesinnere verdrängt worden waren. Neben den Shawnees, möglicherweise die direkten Nachfolger der Fort Ancient, gab es Wyandots, Miamis, Delawares, Ottawas, Mingos und Eries. Ohio wurde zum Schauplatz von Schlächtereien wie dem »Yellow Creek Massaker« (1774, für das sich der vorher weißenfreundliche Irokesen-Häuptling Logan blutig rächte), und dem »Gnadenhutten- oder Moravian-Massaker« (1782, mit 96 Toten). Die Siedler hatten die indigene Bevölkerung bald vollständig ausgerottet.

Seit 1803 ist Ohio der 17. Bundesstaat der USA, etwas größer als Österreich. Nördlich begrenzt ihn der Eriesee, südlich der Ohio River. Der Süden des Buckeye-Staates, benannt nach der lokalen Rosskastanie, hat subtropisches Klima, der Norden heiße Sommer und kalte Winter. Meine Anwesenheit beschränkte sich auf den Winter, der, als ich den Bundesstaat verließ, übergangslos in Hitze kippte. Als Freund heißer Temperaturen googelte ich im darauffolgenden Sommer wehmütig die Fahrenheit-Temperaturen von Bowling Green oder Toledo, musste aber feststellen, dass ich nur tiefere Fahrenheit-Werte im Gefühl hatte.

In dem Staat mit seinen 11,61 Millionen Menschen liegen Orte zwischen 727.000 (Columbus) und 79 Einwohnern (Miltonsburg). Seine Einwohner sind zu 83 % weiß und zu 12 % schwarz. Ein Viertel der Bevölkerung soll deutscher Abstammung sein, 13 % irischer. Die Hälfte bekennt sich zu den diversen protestantischen Kirchen, ein Fünftel zur katholischen, in Cleveland und Cincinnati leben jüdische Gemeinden, im Nordosten Amish. Sieben US-Präsidenten wurden in Ohio geboren, und damit rangiert der Bundesstaat hinter Virginia (8) an zweiter Stelle.

Der Rust Belt, in dem Ohio liegt, war einst die größte zusammenhängende Industrieregion und ein wirtschaftlicher Stolz der Nation, als er noch Manufacturing Belt hieß. Er verlief von Chicago (Lebensmittel) über Detroit (Autos) nach Pittsburgh (Stahl) und Boston (Hafen). Als die Schwerindustrie ab den Siebzigerjahren in die Entwicklungsländer verlegt wurde, begann dieser Teil der Welt zu rosten.

Der schwerwiegendste Schlag gegen die US-Industrie erfolgte erst in den Nuller Jahren. Der Niedergang der Ohioer Stahl-und Eisenindustrie, die Standortflucht der Unternehmen und die Maschinisierung brachten neben Bevölkerungsabnahme, Bildungsmangel und hoher Arbeitslosigkeit auch eine Zunahme des Verbrechens und einen florierenden Drogenhandel mit sich. Am schlimmsten erwischte es Detroit, die Motorenstadt (»Motown«), mit den monumentalen Werken von General Motors, Ford und Chrysler. In den vergangenen sechs Jahrzehnten verlor Detroit mehr als 60 % seiner Bewohner, in den letzten 15 Jahren verzeichnete es einen weiteren Rückgang von fast einem Drittel, 80.000 Häuser stehen heute leer, ein Drittel des Stadtgebiets ist unbewohnt.

2010 hatte etwa die herstellende Industrie nur noch 11 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt der USA, des ehemals größten Produktionszentrums der Welt. «Well, you know, lots of people complainin’ that there is no work«, hatte Bob Dylan dieses Symptom bereits bei seinem Erstauftreten, ein Vierteljahrhundert vorher, besungen, «I say, why you say that for? / When nothin’ you got is U.S.-made / They don’t make nothin’ here no more.« 2009 ging General Motors in Konkurs, 2013 musste Detroit selbst Konkurs anmelden. Ehemals viertgrößte Stadt der USA, im Jahr 1980 immerhin noch sechstgrößte, liegt sie nun mit ungefähr 700.000 Einwohnern auf Rang 18, noch hinter Columbus in Ohio, Fort Worth in Texas oder dem boomenden Charlotte in North Carolina. Die Metropolregion hat derzeit 4,3 Millionen Einwohner.

Wie kam es zu dem letzten Schlag gegen das Industriezentrum? Bill Clinton hatte im Jahr 2000 den Beitritt Chinas zur WTO durchgesetzt, damals mit der Argumentation, dass die USA fortan besser nach China exportieren könnte. Es kam umgekehrt. Zu Zehntausenden verloren die amerikanischen Arbeiter neben ihren Jobs das Vertrauen in die Demokratische Partei. Die Wut der arbeitslosen manufacturing workers richtet sich inzwischen gegen das liberale »Establishment«, für das Hillary Clinton jüngst als Symbolfigur stand.

Ohne viele grundsätzliche Sozialleistungen können die Durchschnittsbürger – vor einem halben Jahrhundert noch wohlhabend – ihren Lebensstandard nur halten, indem sie mehrere Jobs gleichzeitig managen und Privatschulden aufnehmen. So haben sie auch kaum Zeit, um sich gegen die Verhältnisse aufzulehnen. Stattdessen protestieren viele an der Wahlurne. Sie wählen tragischerweise jene, die keinerlei Interesse an einer Verbesserung ihrer Lebensumstände haben.

Was Umweltbewusstsein betrifft, liegen die Amerikaner ungefähr auf einer Ebene mit Indien, Ghana oder Zimbabwe. Eines der eindrücklichsten Erlebnisse in Ohio ist die fröhliche Energieverschwendung. Erstens sorgt die Bauweise der Häuser für einen extremen Heizaufwand. Zweitens stellt niemand je den Motor des Autos ab. Drittens laufen die Computer im ganzen Land grundsätzlich über Nacht. Strom ist – wie Benzin – äußerst billig. Die Einwohner verbrennen, weil sie es so gelernt haben, die Vorräte der Erde. Sie kriegen von überallher das Gefühl vermittelt, der Rohstoff, der Brennstoff sei gratis. Es heißt, die Amerikaner würden 5 % der Weltbevölkerung ausmachen und 20 % der Ressourcen verbrauchen.

Todesstrafe war nie eines meiner Themen. Gefühlsmäßig habe ich diese Machtüberschreitung des Staats immer abgelehnt. Je mehr ich jetzt darüber las, desto absurder schien mir diese Höchststrafe.

Ohio exekutierte bisher mehr als 50 Personen. Nach einer unerfreulich verlaufenen Exekution im Jahr 2014 hatte der Gouverneur John Kasich (*1952) die Praxis aussetzen müssen. Der Häftling, namentlich der 1362ste Hingerichtete in den USA seit 1976, starb nach einem 24-minütigen Todeskampf. Ein unerprobtes Medikament war für die Prozedur verwendet worden worden, da die EU Ausfuhrverbote über die bisher verwendeten Qualitätspräparate verhängt hatte, um keine staatlichen Tötungen zu unterstützen. Der Vize-Justizminister Ohios ließ den Kritikern ausrichten, dass »niemand das Recht auf einen schmerzfreien Hinrichtungsvorgang« habe.

Über 140 Personen warten in Ohio derzeit auf ihre Hinrichtung. 2010 war das Jahr mit der fleißigsten Exekutionsaktivität (8), ab 2014 pausierte man, 2017 nahm der Bundesstaat seine Gewohnheit wieder auf und hat seither zwei Häftlinge umgebracht. Bei einem dritten schaffte er es nicht. Der verurteilte Mörder Alva Campbell Jr., 69, ein Krebspatient mit diversen weiteren Leiden, sollte im November 2017 die Giftspritze erhalten.

»Versuche des medizinischen Teams«, formulierte ABC News, »intravenösen Zugang zum Patienten zu erhalten, waren nicht erfolgreich.« Journalisten mit Beobachterstatus berichteten, dass die Mediziner entnervt zweimal pro Arm und einmal im rechten Bein Zugänge zu stechen versucht hatten. Der...

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