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damit wir klug werden (Ps 90,12)

Die wichtigsten Texte des Stuttgarter Kirchentages

VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641188795
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die wichtigsten Texte des Stuttgarter Kirchentages
Unter dem Motto aus Psalm 90,12 »damit wir klug werden« fand vom 3. bis 7. Juni 2015 der 35. Deutsche Evangelische Kirchentag in Stuttgart statt. Die Veranstaltungen des Kirchentages sind ein Spiegelbild des vielfältigen religiösen und gesellschaftlichen Lebens: Diskussionen und Dialoge rund um die Kernthemen Frieden und Flüchtlinge, Wirtschaft und Werte, Demokratie und Daten. Der Aufsatzband präsentiert die wichtigsten Texte dieses evangelischen Großereignisses.

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Leseprobe

Brauchen wir eine Weltregierung?

Fragen an Politik, Recht und Philosophie

Rainer Forst, Christoph Möllers und Michael Zürn

Vortrag Rainer Forst

Der Kirchentag stellt uns eine nicht ganz kleine und nicht leicht zu beantwortende Frage, nämlich die, ob wir eine Weltregierung brauchen. Um diese Frage recht zu verstehen und sich einer Antwort zumindest zu nähern, bedarf es der Zusammenarbeit der drei Disziplinen, für die wir stehen, nämlich der Philosophie, der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft. So werden wir im Folgenden aus deren Perspektiven sprechen und dabei versuchen, eine gemeinsame Position herauszuarbeiten.

Neue Debatten über globale Gerechtigkeit

Beginnen wir mit einigen Reflexionen aus der politischen Philosophie, in der die Frage nach Weltregierung ebenso aktuell wie alt ist, denkt man etwa an Dantes Ideal einer Weltmonarchie (1316) bis hin zu Kants Idee einer Weltrepublik in seiner Schrift »Vom ewigen Frieden« (1795), von der er aber nur das »negative Surrogat« eines Völkerbundes als erstrebenswert ansah, das dazu dienen soll, den Krieg und die Bereitschaft dazu aus der politischen Welt zu bannen.

Das heißt, wer die Frage nach der Weltregierung positiv beantwortet, hat dafür einen bestimmten normativen Grund wie die Beförderung der katholisch-humanistischen Zivilisation (bei Dante) oder, etwas moderner, das Ende des Krieges. Doch wie auch immer diese Gründe gelagert sind: Bescheiden sind sie nicht gerade.

Hier liegt auch ein Punkt möglicher Differenzen zwischen der Philosophie, der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft: Erstere greift freier auf normative Gründe zu, Letztere sind stärker den Wirklichkeiten verhaftet, insbesondere denen internationaler Konflikte. Bisweilen wird dies als Differenz zwischen den obersten Zielen verstanden, etwa in Bezug auf das Verhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit.

So scheint es zumindest. Wir aber verfolgen in unseren (jeweiligen und gemeinsamen) Arbeiten ein anderes Programm. Uns geht es zunächst um eine realistische Bestandsaufnahme der vielfältigen, bereits bestehenden globalen Herrschafts- und Regierungsverflechtungen sowie der zu lösenden globalen Probleme. Von dort aus fragen wir nach der Legitimität von Herrschaft auf diesen trans-, inter- und supranationalen Ebenen.

Die Relevanz dieser – wenn man so will – realistischen Perspektive zeigt sich, wenn man einen kurzen Blick auf neuere Debatten in der politischen Philosophie über globale Gerechtigkeit wirft, die sich noch immer in dem Kant'schen Dualismus von Weltstaat oder Staatenwelt bewegen, der unsere Vorstellungskraft einengt.1

Kosmopolitische Ansätze betonen die gleichen moralisch-politischen Ansprüche aller Menschen auf ein menschenwürdiges Leben ohne Armut, Mangel und Chancenungleichheit. Moralisch willkürliche Unterschiede zwischen Menschen (Herkunft, Talente, Zufälle) dürfen diesen Konzeptionen zufolge nicht zu unterschiedlichen Lebensaussichten führen und auch nicht zu asymmetrischen sozialen Verhältnissen. In der Konsequenz heißt das, dass erst eine umfassende Weltgesellschaft in einem globalen Neuverteilungsarrangement von Ressourcen und sozialen Chancen Gerechtigkeit auf Erden schaffen könnte.

Dem steht auf Seiten der Nationalstaatsverfechter beziehungsweise Kommunitaristen erhebliche Skepsis gegenüber. In ihren Augen ist die Unterschiedlichkeit kultureller und politischer Ordnungen nicht moralisch willkürlich, sondern eine normativ relevante Tatsache. Die Güter und Ressourcen in der Welt sind nicht einfach da oder als Gemeineigentum zu betrachten, sondern sie sind erarbeitet, mit Besitzansprüchen verbunden oder zumindest Teil partikularer sozialer Kooperationskontexte. So zu tun, als gäbe es diese kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten nicht, ist demnach ein ort- und haltloses Denken, das kaum geteilt wird. Ferner gibt es diesen Theorien zufolge eine solch gewaltige Pluralität von Wertvorstellungen, dass die Annahme, es könne einen Konsens über zentrale Gerechtigkeitsprinzipien und die Form ihrer Realisierung geben, hoffnungslos utopisch erscheint. Bestenfalls kann man darauf setzen, internationale Vereinbarungen über Konfliktvermeidung und die Einhaltung der Menschenrechte zu treffen.

Grundrecht auf Rechtfertigung

Angesichts solch fundamentaler Streitfragen erscheint es geraten, sich zunächst des Begriffs der Gerechtigkeit grundsätzlich zu vergewissern.2 Der Begriff besitzt einen Bedeutungskern, der als wesentlichen Gegenbegriff den der Willkür hat: sei es die Willkürherrschaft Einzelner oder eines Teils der Gemeinschaft (etwa einer Klasse), sei es die Hinnahme sozialer Kontingenzen, die zu asymmetrischen Positionen beziehungsweise Verhältnissen der Beherrschung führen und als schicksalhaft und unveränderbar hingenommen werden. Die Herrschaft der Willkür ist die Herrschaft von Menschen über Menschen ohne ausreichenden Grund; und wo der Kampf gegen Ungerechtigkeit aufgenommen wird, richtet er sich gegen solche Formen der Beherrschung. Der Grundimpuls gegen die Ungerechtigkeit ist nicht primär der des Etwas- oder Mehr-haben-Wollens, sondern der, nicht mehr beherrscht, bedrängt oder übergangen werden zu wollen in seinem Anspruch und Grundrecht auf Rechtfertigung. Dieser Anspruch enthält die Forderung, dass es keine politischen oder sozialen Verhältnisse geben soll, die gegenüber den ihnen Unterworfenen nicht adäquat gerechtfertigt werden können. Darin liegt das zutiefst politische Wesen der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit erfordert es, dass die Mitglieder eines gesellschaftlichen Zusammenhangs als Gleiche respektiert werden, und das heißt, dass sie gleichberechtigte Teilnehmer an der sozialen und politischen Rechtfertigungsordnung sind, in der unter ihrer Beteiligung die Bedingungen der Hervorbringung und der Verteilung von Gütern und Lebenschancen bestimmt werden. So kann auch der Einwand des kulturellen Relativismus zurückgewiesen werden, da dieser Konzeption zufolge keine fremden Normen einem kulturellen Kontext übergestülpt werden, sondern die Rechtfertigungsmacht bei den Mitgliedern einer Gesellschaft liegt.

Auf dieser Basis ist eine umfassende Theorie politischer und sozialer Gerechtigkeit zu konstruieren. Zunächst ist eine begriffliche Unterscheidung zwischen fundamentaler und vollständiger Gerechtigkeit vorzunehmen. Die Aufgabe fundamentaler Gerechtigkeit ist die Herstellung einer Grundstruktur der Rechtfertigung, die Aufgabe der vollständigen Gerechtigkeit die Herstellung einer umfassend gerechtfertigten Grundstruktur. Damit Letzteres angezielt werden kann, ist Ersteres notwendig: eine Praxis der Rechtfertigung durch diskursiv-konstruktive, demokratische Verfahren, in denen die Rechtfertigungsmacht unter den Bürgerinnen und Bürgern möglichst gleich verteilt ist.

So erschließt sich auch die Grundbestimmung der Legitimität politischer Herrschaft.3 Legitimität nennen wir generell die Eigenschaft einer normativen Ordnung, die ihre allgemeine Verbindlichkeit für die ihr Unterworfenen erklärt und begründet; aber zu einer spezifischen Konzeption wird dieses Konzept erst durch weitere normative Quellen. Der Begriff der Legitimität ist also zunächst deskriptiver Natur, und seine dies überlagernde, prominentere Funktion normativer Kritik oder Verteidigung einer politischen Ordnung verdankt sich anderen Ressourcen. Die normative Kraft des Begriffs ist, wenn man sich dies nicht klarmacht, nur erschlichen. Daher sehen wir den Begriff der Legitimität als normativ abhängig an und schlagen ein bestimmtes Verständnis von demokratischer Gerechtigkeit als seine Grundlage vor.

Eine kritische und »realistische« Theorie der Gerechtigkeit

Was heißt dies nun für unsere Ausgangsfrage? Es heißt, dass wir weder im luftleeren Raum kosmopolitisch denken sollten noch uns an eine überkommene Vorstellung nationaler Gesellschaften und Ökonomien oder abgetrennter Kulturwelten halten sollten, sondern mit einer realistischen Bestandsaufnahme all der Verhältnisse beginnen müssen, in denen trans-, inter- oder supranational Herrschaft ausgeübt wird – und zwar formal, über politische Verfahren und internationales Recht, als auch informell, über ökonomische und soziale Kooperation und, eher realistisch: über ökonomische oder ökologische Abhängigkeits- und auch Ausbeutungsverhältnisse. Dies sind die Strukturen, in denen Herrschaft und auch Beherrschung stattfinden, und hier muss ein politisches Verständnis der Gerechtigkeit ansetzen, welches fordert, dass diejenigen, die solchen Strukturen unterworfen sind, Autoren ihrer Verhältnisse werden. Überall dort besteht ein Kontext der Gerechtigkeit, wo Verhältnisse politischer Herrschaft sowie sozialer Kooperation bestehen, aber auch dort, wo Formen der Beherrschung bestehen, seien sie rechtlich institutionalisiert oder nicht, also insbesondere Verhältnisse negativer Kooperation beziehungsweise Formen des Zwangs rechtlich, politisch, ökonomisch, ökologisch oder kulturell.

Eine kritische und »realistische« Theorie der Gerechtigkeit hat hier ihren Einsatzpunkt, und dies setzt eine sozialwissenschaftliche Analyse voraus. Sie erkennt ein komplexes System von Herrschaft und von Beherrschungen auf nationaler, inter- und transnationaler Ebene und sieht folglich die erste Aufgabe der Gerechtigkeit in der Herstellung entsprechender transnationaler, internationaler und...

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