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Ich fühle, also bin ich

Die Entschlüsselung des Bewusstseins

AutorAntonio R. Damasio
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783843708975
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Woher wissen wir, dass wir wissen? Wie entsteht das Gefühl für unser Selbst? Welche Rolle spielen Emotionen und Gefühle im Bewusstseinsprozess? In einer klaren, gut verständlichen Sprache beschreibt der weltweit berühmte Neurologe Antonio Damasio, warum wir fühlen, was wir sind. Zahlreiche Fallbeispiele aus seinem Patientenkreis veranschaulichen dabei, welch kuriose und schreckliche Folgen Schädigungen des Gehirns für unser Selbstverständnis haben können. Eine spannende Reise in die Tiefe unseres Bewusstseins.

Antonio R. Damasio ist David Dornsife Professor für Neurowissenschaft, Neurologie und Psychologie und Direktor am Brain und Creativity Institute an der University of Southern California. Er wurde vielfach für sein Werk ausgezeichnet, zuletzt mit dem Prince of Asturias Prize für Wissenschaft und Technology. Damasio ist Mitglied der National Academy of Sciences und der American Academy of Arts and Science. Seine sehr erfolgreichen Bücher Descartes' Irrtum, Ich fühle, also bin ich und Der Spinoza-Effekt sind in über dreißig Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

ZWEITES KAPITEL


Emotion und Gefühl


Noch einmal mit Emotion


Alle Menschen ohne Ausnahme – Männer und Frauen jedes Alters, aller Kulturen, jedes Bildungsstandes, aus allen wirtschaftlichen Verhältnissen – haben Emotionen, wissen um die Emotionen anderer, gehen Beschäftigungen nach, die ihre Emotionen manipulieren, und verbringen ihr Leben nicht zuletzt damit, eine bestimmte Emotion zu suchen – Glück – und unangenehme Emotionen zu vermeiden. Auf den ersten Blick haben Emotionen nichts spezifisch Menschliches, weil offenkundig ist, dass auch viele nichtmenschliche Lebewesen Emotionen in Hülle und Fülle haben. Und doch ist etwas Besonderes an der Art, wie Emotionen mit den komplexen Ideen, Werten, Prinzipien und Urteilen verknüpft sind, die nur Menschen haben können. Auf dieser Verknüpfung beruht unsere legitime Überzeugung, dass menschliche Emotionen etwas Spezielles sind. Menschliche Emotionen betreffen nicht nur sexuelle Lust oder die Angst vor Schlangen. Sie sind auch der Schrecken beim Anblick von Leid und die Befriedigung, die wir empfinden, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wird, unser Entzücken über das sinnliche Lächeln von Jeanne Moreau oder über die verdichtete Schönheit der Wörter und Ideen in einem Shakespeare’schen Vers, über die weltverdrossene Stimme Fischer-Dieskaus, wenn er Bachs Ich habe genug singt, über die zugleich irdische und überirdische Phrasierung von Maria João Pires, wenn sie Mozart oder Schubert spielt, und über die Harmonie, die Einstein im Aufbau einer Gleichung suchte. Subtile menschliche Emotionen können sogar durch kitschige Musik und kitschige Filme ausgelöst werden, deren Macht wir niemals unterschätzen sollten.

Die Wirkung all der oben geannnten Anlässe für – erhabene und weniger erhabene – Emotionen und für all die emotionalen Schattierungen – feinsinnig und weniger feinsinnig –, die sie auslösen, hängt von den Gefühlen ab, die durch diese Emotionen hervorgerufen werden. Die Emotionen, die nach außen gerichtet und öffentlich sind, beginnen ihre Wirkung auf den Geist durch die Gefühle, die nach innen gerichtet und privat sind. Doch die vollständige und andauernde Wirkung von Gefühlen bedarf des Bewusstseins, weil das Individuum nur mit den Anfängen eines Selbst-Sinns erkennen kann, dass es Gefühle hat.

Der eine oder andere Leser mag verwirrt sein von der Unterscheidung zwischen »Gefühl« und »wissen, dass wir ein Gefühl haben«. Setzt der Zustand des Fühlens nicht notwendigerweise voraus, dass der fühlende Organismus sich der Emotion und des Gefühls, die sich in ihm entfalten, vollkommen bewusst ist? Ich meine, dass dies nicht der Fall ist, dass ein Organismus in neuronalen und mentalen Mustern den Zustand repräsentieren kann, den wir bewussten Lebewesen ein Gefühl nennen, ohne je zu wissen, dass das Fühlen stattfindet. Diese Trennung ist schwer vorstellbar, nicht nur weil die herkömmlichen Bedeutungen der Wörter uns den Blick verstellen, sondern weil wir dazu tendieren, uns unserer Gefühle bewusst zu sein. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass wir um alle unsere Gefühle wissen – mehr noch, vieles spricht dagegen. Häufig wird uns beispielsweise in einer gegebenen Situation ganz plötzlich bewusst, dass wir uns ängstlich oder unbehaglich, erfreut oder entspannt fühlen, und es ist ganz offenkundig, dass dieser besondere Gefühlszustand, den wir in diesem Augenblick erkennen, nicht im Augenblick der Erkenntnis, sondern schon einige Zeit vorher eingesetzt hat. Weder der Gefühlszustand noch die Emotion, die ihn ausgelöst hat, waren »im Bewusstsein«, und doch haben sie sich als biologischer Prozess entfaltet. Diese Unterscheidungen mögen auf den ersten Blick künstlich wirken, doch ich habe ganz und gar nicht die Absicht, etwas Einfaches zu komplizieren, sondern etwas, das ziemlich kompliziert ist, in überschaubare Teile zu zerlegen. Um diese Phänomene besser untersuchen zu können, unterscheide ich drei Verarbeitungsstadien, die sich entlang eines Kontinuums anordnen: einen emotionalen Zustand, der nichtbewusst ausgelöst und ausgeführt werden kann; einen Gefühlszustand, der nichtbewusst repräsentiert werden kann; und einen bewusst gemachten Gefühlszustand, das heißt, einen Zustand, in dem der Organismus weiß, dass er sowohl Emotion als auch Gefühl hat. Ich glaube diese Unterscheidungen können uns bei dem Versuch helfen, uns die neuronalen Grundlagen dieser Ereigniskette im Menschen vorzustellen. Mehr noch, ich nehme an, dass einige nichtmenschliche Lebewesen, die Emotionen zeigen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht über unsere Form des Bewusstseins verfügen, durchaus Repräsentationen erleben, die wir Gefühle nennen, ohne dass sie es wissen. Man könnte einwenden, wir sollten ein anderes Wort verwenden für »Emotionen, die bewusst sind«, aber es gibt keins. Die Alternative wäre, zu erklären, was wir meinen.

Kurzum, Bewusstsein muss vorhanden sein, wenn Gefühle das Subjekt über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus beeinflussen. Die Bedeutung dieses Umstands – dass die Konsequenzen der menschlichen Emotionen und Gefühle letztlich das Bewusstsein betreffen –, ist noch nicht hinreichend gewürdigt worden (wahrscheinlich ist die seltsame Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Emotion und Gefühl für diese Vernächlässigung verantwortlich zu machen). Die Emotion wurde im Laufe der Evolution wahrscheinlich vor der Morgendämmerung des Bewusstseins angelegt und meldet sich in uns allen, wenn wir auf Auslösereize reagieren, die wir häufig gar nicht bewusst wahrnehmen. Andererseits rufen Gefühle ihre endgültigen und dauerhafteren Wirkungen im Theater des Bewusstseins hervor.

Der tiefgreifende Gegensatz zwischen der verdeckt hervorgerufenen und nach außen gewendeten Emotion und dem nach innen gewendeten und letztlich bewussten Status des menschlichen Fühlens lieferte mir einen wunderbaren Ausgangspunkt für meine Überlegungen zur Biologie des Bewusstseins. Es gibt noch andere Brücken zwischen Emotion und Bewusstsein. In diesem Buch vertrete ich die Auffassung, dass das Bewusstsein wie die Emotion dem Überleben des Organismus dient und tief in der Repräsentation des Körpers verwurzelt ist. Außerdem verweise ich auf einen faszinierenden neurologischen Tatbestand: Wenn das Bewusstsein aufgehoben ist, vom Kernbewusstsein an aufwärts, ist gewöhnlich auch die Emotion aufgehoben, was den Schluss nahe legt, dass Emotion und Bewusstsein zwar unterschiedliche Phänomene sein mögen, ihre Grundlagen aber wohl miteinander verknüpft sind. Daher müssen wir zunächst die verschiedenen Merkmale der Emotion erörtern und können uns erst anschließend dem Bewusstsein direkt zuwenden. Doch bevor ich die Ergebnisse dieser Überlegungen zu Papier bringe, möchte ich Sie zu einem Exkurs über die seltsame Geschichte der Wissenschaft von den Emotionen einladen, weil diese Geschichte vielleicht erklären kann, warum das Bewusstsein bisher noch nie aus der von mir gewählten Perspektive untersucht worden ist.

Ein historischer Exkurs


Wenn man bedenkt, welche Bedeutung Emotion und Gefühl in vielerlei Hinsicht beigemessen wurde, sollte man erwarten, dass die Philosophie und die wissenschaftliche Erforschung von Geist und Gehirn alle Anstrengungen unternommen hätten, ihre Ergebnisse auszutauschen und von ihren gegenseitigen Erkenntnissen zu profitieren. Doch überraschenderweise geschieht das erst jetzt. Die Philosophie hat, ungeachtet David Humes und der von ihm begründeten Tradition, der Emotion nicht vertraut und sie weitgehend in die verzichtbaren Bereiche des Tierischen und Fleischlichen verbannt. Eine Zeit lang machte es die Wissenschaft zwar besser, doch dann verpasste auch sie ihre Chance.

Ende des 19. Jahrhunderts hatten Charles Darwin, William James und Sigmund Freud ausführlich über verschiedene Aspekte der Emotion geschrieben und ihr einen besonderen Platz im wissenschaftlichen Diskurs eingeräumt. Trotzdem haben Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft der Emotion während des gesamten 20. Jahrhunderts bis in allerjüngste Zeit die kalte Schulter gezeigt. Darwin hat eine ausführliche Untersuchung über den Ausdruck der Emotion in verschiedenen Kulturen und verschiedenen Arten geschrieben. Obwohl er die menschlichen Emotionen für Überreste früherer Evolutionsstadien hielt, maß er dem Phänomen durchaus Bedeutung zu. William James hat das Problem wie üblich mit großer Klarheit analysiert und seine Darstellung ist trotz ihrer Unvollkommenheit ein Meilenstein in der Geschichte unseres Feldes geblieben. Freud wiederum hat das pathologische Potential gestörter Emotionen erkundet und ihre Bedeutung mit großer Klarheit beschrieben.

Darwin, James und Freud mussten hirnorganische Aspekte ihrer Ideen notgedrungen offen lassen, während Hughlings Jackson, einer ihrer Zeitgenossen, in diesem Punkt genauer war. Er machte den ersten Schritt zu einer möglichen Neuroanatomie der Emotionen, als er die These vertrat, die rechte Großhirnhemisphäre des Menschen sei wahrscheinlich für die Emotion zuständig, während die linke vorwiegend für die Sprache verantwortlich sei.

Man hätte erwarten können, dass die aufsteigenden Neurowissenschaften die Emotion auf die Tagesordnung setzen und die damit verbundenen Probleme angehen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Darwins Arbeit über die Emotionen geriet in Vergessenheit, James sah sich mit seinen Überlegungen unfairen Angriffen ausgesetzt und pauschal verurteilt und Freud entfaltete seinen Einfluss in anderen Zirkeln. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts duldete man die Emotion nicht in den wissenschaftlichen Labors. Die Emotion sei zu subjektiv, hieß es. Sie sei zu schwer...

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