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E-Book

Menschen mit Demenz im Krankenhaus versorgen

Praxisbuch zur professionellen Begleitung von Betroffenen und Angehörigen

AutorBeth Cotton, Jo James, Josh Pettit, Jules Knight, Lucy Gilby, Rita Freyne
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783456758282
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Die Abläufe von Krankenhäusern und die Qualifikationen von Akutpflegenden sind vielfach nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen ausgerichtet. Dies führt zu zahlreichen Problemen und Gefährdungen auf beiden Seiten. Das Praxishandbuch zeigt fallbezogen, wie Menschen mit Demenz im Spital bedürfnisgerecht und person-zentriert gepflegt und versorgt werden können. Die englischen Demenzexperten - erläutern die Rolle und Bedeutung von Angehörigen - benennen Grundprinzipien guter Versorgung, die Wohlbefinden, Stärken und Person-Zentrierung fördern - erklären, warum gemeindenahe Unterstützung wichtig ist und zeigen, wie eine kontinuitätsfördernde Entlassungsplanung machbar ist - helfen, Entscheidungen bezüglich Schutzmaßnahmen kompetent zu treffen - beschreiben, wie Kommunikationsbarrieren überwunden werden können - führen aus, wie körperliche Probleme von Delir, über Bettlägerigkeit, Gebrechlichkeit, Inkontinenz, Schmerzen, Stürze, Seh-Hörstörungen, bis hin zur Ernährung und Mundhygiene, gelöst werden können - zeigen, wie herausforderndes Verhalten verstanden und gemeistert werden kann - beschreiben, wie die physische Umgebung und das soziale Umfeld therapeutisch genutzt werden können - benennen aktivierende Interventionen, um Langeweile zu vermeiden - zeigen, wie Berührungen und Einreibungen ausgeführt werden können, um Wohlbefinden zu fördern - beschreiben, wie am Lebensende mit Betroffenen und Angehörigen einvernehmlich entschieden und wie mit Trauerreaktionen mitfühlend umgegangen werden kann.

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Leseprobe

1 Rolle und Bedeutung von Betreuenden in der Klinik


Nicci Gerrard und Julia Jones

Kliniken sind für alte und gebrechliche sowie für Menschen im Delir und mit einer Demenz ein gefährlicher Ort. Zunehmend ist man sich einig darüber, dass sie dort nur hingehen sollten, wenn es absolut notwendig ist, und die Klinik wieder verlassen sollten, sobald dies auf sichere Weise möglich ist. Körperlich und geistig verfallen Menschen mit einer Demenz in der Klinik oft sehr rasch. Dieser Abbau kann in einen Teufelskreis führen: Sie können nicht entlassen werden, solange es ihnen nicht besser geht und es kann ihnen erst besser gehen, nachdem sie entlassen wurden. Klinikaufenthalte von Patienten mit einer Demenz sind tendenziell länger als die entsprechender Vergleichspersonen. In ihrem geschwächten Zustand ist es weniger wahrscheinlich, dass sie in ihr eigenes Zuhause zurückkehren und mit höherer Wahrscheinlichkeit werden sie nach 30 Tagen wieder stationär eingewiesen (Alzheimer’s Society, 2009). Häufig kommt es zu Dehydratation, Mangelernährung, Inkontinenz und verminderter Mobilität. Vor allem nimmt ihre Verwirrtheit oft zu und ihre Unabhängigkeit sinkt. Dies sind allgemein akzeptierte Fakten – und zugleich individuelle Geschichten von Leiden und sogar von Tragödien. John’s Campaign, die für das Recht von Betreuungspersonen kämpft, ihre geliebten Personen in der Klinik zu begleiten, sowie für die Rechte jener mit Demenz, begleitet zu werden, hat zahlreiche Beispiele für einen katastrophalen Abbau und unnötigen Tod gesammelt (Gerrard & Jones, 2016).

Es überrascht nicht, dass Menschen mit einer Demenz in einem klinischen Setting, das für jeden furchteinflößend ist und für sie destabilisierend, einsam und erschreckend sein kann, nicht gedeihen. Sie brauchen eine sorgsame, umsichtige, personzentrierte Pflege und Versorgung, um nicht nur als therapiebedürftiger Patient mit einer bestimmten Erkrankung, sondern als vulnerable und labile Person behandelt zu werden. Gute, mitfühlende Pflegende können sie zwar ernähren und mobil halten, aber weder ihre Geschichte kennen noch ihre Bedürfnisse verstehen, wenn diese Menschen mühsam darum ringen, sie zu artikulieren, und sie können sie auch nicht mit der Welt verbunden halten, die sie beim Eintritt in die Klinik hinter sich gelassen haben. Eine Betreuungsperson kann für den stimmlosen Patienten Stimme, Gedächtnis und ein vertrautes Gesicht sein. Sie kann die Brücke des Patienten in die professionelle Welt von Pflegenden und Ärzten – das unschätzbare Bindeglied – darstellen.

In vielen Kliniken Großbritanniens ist es Betreuungspersonen jedoch nicht gestattet, Menschen mit einer Demenz in der Klinik zu begleiten. Ausgeschlossen durch starre Besuchszeiten, durch Regeln, die in einem nicht mehr existierenden System entstanden und jetzt kaum noch sinnvoll sind, verlieren alle Beteiligten. Die Pflegenden verlieren einen Teil des Unterstützungsteams um den Patienten, ohne den ihre Arbeit noch härter und anstrengender wird. Die Betreuungspersonen verlieren, weil sie daran gehindert werden, mit ihrer geliebten Personen in Zeiten der Not zusammen zu sein und weil sie unter den körperlichen und emotionalen Folgen des Abbaus zu leiden haben werden. Und natürlich verliert auch die Person mit Demenz – und zwar möglicherweise alles: ihr ganzes Selbst.

Eine Situation, in der alle verlieren, kann jedoch zu einer werden, in der alle gewinnen. Wo Betreuungspersonen willkommen sind, als äußerst wichtig anerkannt werden und ihre Expertise eingebunden wird, bekommen Pflegende mehr Freiraum, um zu pflegen, und der Patient kann während seines gesamten Klinikaufenthalts unterstützt werden. Es mehren sich Belege dafür, dass die Einbindung von Betreuungspersonen Stürze, Mangelernährung, Dehydratation und kognitiven Abbau verringert, die Aufenthaltsdauer in der Klinik verkürzt und die Wahrscheinlichkeit einer raschen stationären Wiedereinweisung senkt. Es ist auf jeder Ebene sinnvoll.

Auch wenn es schwieriger messbar ist, erhöht das Einbinden der Betreuungsperson das Wohlbefinden und die Sicherheit des Patienten und schützt dessen Würde und Selbstwertgefühl. Es ist eine Frage des Mitgefühls und Anstands, dass gebrechliche und vulnerable Menschen, deren Lebensende möglicherweise naht, begleitet werden. Zwar hat John’s Campaign (2016) zahlreiche Fälle des Leidens und Abbaus von Menschen mit einer Demenz in der Klinik zusammengetragen, aber auch Geschichten von großartiger, mitfühlender Praxis, von Güte in Aktion gesammelt – Geschichten, in denen das Personal besondere Anstrengungen unternommen hat, Betreuungspersonen willkommen zu heißen und ihnen das Gefühl von Anerkennung zu vermitteln, und in denen Patienten während ihres gesamten Klinikaufenthalts unterstützt wurden (Gerrard & Jones, 2016).

John’s Campaign zufolge haben Betreuungspersonen das Recht, aber niemals die Pflicht, ihre geliebten Menschen in der Klinik zu begleiten: Betreuungspersonen bedürfen unter Umständen selbst in hohem Maße der Erholung. Selbstverständlich haben Menschen mit einer Demenz oft keine Betreuungspersonen. Und natürlich geht es für das Pflegepersonal nicht einfach darum, die Türen zu öffnen, wenn es Betreuungspersonen Zutritt zur Welt der Klinik gewährt. Die Mitarbeitenden müssen die Privatsphäre anderer Patienten, die Auswirkungen auf die eigene Zeit, die Notwendigkeit, zwischen Besuchern und Betreuungspersonen zu unterscheiden, sowie die Bedeutung einer klaren Kommunikation mit der Betreuungsperson berücksichtigen, damit jeder seine Rolle und seine Grenzen versteht. Man könnte Ausweise oder Armbinden für Betreuungspersonen einführen, ihnen Schlafsessel zur Verfügung stellen, wenn sie über Nacht bleiben möchten, Vergünstigungen bei den Parkgebühren gewähren oder ihnen Gutscheine für Kaffee, Tee oder gar Mahlzeiten geben.

In britischen Kliniken, die Betreuungspersonen jetzt freien Zugang gewähren, gibt es viele Beispiele für Mitarbeitende, die ihnen nicht einfach nur Zutritt gewähren, sondern sie großzügig willkommen geheißen und das Prinzip mitfühlender Pflege und Versorgung empathisch und phantasievoll umgesetzt haben. Landesweit sind Klinikmitarbeitende über ihre Arbeitsplatzbeschreibung hinausgegangen und haben Demenzgärten, Erinnerungsspaziergänge, Wand- (und Deckengemälde für Patienten vor einer Operation), Musik, gemeinsame Mahlzeiten sowie therapeutische Aktivitäten und Veranstaltungen eingeführt (Gerrard & Jones, 2016). Solche Dinge geben – zusammen mit der Anwesenheit jener, die der Person mit Demenz am meisten bedeuten – dem normalen Leben die Chance, in den klinischen Raum einzufließen, sodass sich die Sicherheit des eigenen Zuhauses nicht so weit entfernt anfühlt.

Aus der Sicht einer Betreuungsperson kann es eine Art Erholung bringen, die keine bloße Auszeit ist, wenn sie in ein wechselseitig respektvolles Arbeitsbündnis aufgenommen wird. Zu viele Betreuungspersonen tragen eine Last aus Angst und Verantwortung, ohne durch kommunale Fachpersonen unterstützt zu werden. Nicht dass Sozialarbeitende, Gemeindeschwestern, kommunale Fachpersonen für geistige Gesundheit, Psychiater, Therapeutinnen und Fachpersonen für Demenzpflege sich nicht kümmern würden, aber es gibt sie so selten und sie sind überlastet. Keinen Zugang zu etwas Grundlegendem wie eine rechtzeitige Kontinenzberatung und regelmäßig zu entsprechenden Verbrauchsmaterialien zu finden, kann Betreuungspersonen an den Rand des Zusammenbruchs bringen (Newbronner et al., 2013). Würde besser in kommunale Dienste investiert, gäbe es zweifellos weniger Klinikeinweisungen.

Betreuungspersonen mögen ja durchaus gestresst und übernächtigt sein, nachdem die Zeit bis zu einer Klinikeinweisung mehr als nur die üblichen Schwierigkeiten mit sich gebracht hat, es ist aber auch keine Art, Erholung anzubieten, indem man ihnen Besuch untersagt und all die Zeit und Gedanken verleugnet, die sie bereits aufgebracht haben, sowie ganz offensichtlich keinerlei Interesse für den Wissensfundus zeigt, den sie geschaffen haben. Sehr viel wahrscheinlicher führt es zu Misstrauen, Schuldgefühlen und Wut. Wenn eine Familie mit allen Anzeichen von Ärger und Wut daherkommt, sollten medizinische Fachpersonen daran denken, dass dies unter Umständen die Kulmination von Monaten emotionaler und praktischer Belastung sowie die natürliche Angst vor einer stationären Einweisung darstellt. Viele Betreuungspersonen haben das Gefühl, den Dingen ständig hinterherzulaufen, ohne dass ihr Bemühen jemals Erfolg hätte. Möglicherweise kommt es jedoch zu einer gewissen Erleichterung, wenn eine Betreuungsperson an einen Ort kommt, wo die Verantwortung mit einem multidisziplinären Team geteilt werden kann.

Indessen hat eine wirklich engagierte Betreuungsperson so viel in die von ihr abhängige Person investiert, dass sie wahrscheinlich protektiv, defensiv und unnötig dünnhäutig ist. Eine der Stärken der NHS England John’s Campaign CQUIN (Commission for Quality and Innovation) liegt darin, dass auf eine Schulung des Klinikpersonals in Wahrnehmung von Betreuungspersonen gedrängt wird (NHS England, 2016). Einige Kliniken (z. B. die Newcastle Teaching Hospitals) entwickeln bereits Materialien zu deren Förderung und arbeiten dabei mit örtlichen Organisationen zur Unterstützung von Betreuungspersonen zusammen. Für uns alle – Klinikpersonal eingeschlossen – besteht eine Wahrscheinlichkeit von 1 : 3, irgendwann im Leben Fürsorgeverantwortung übernehmen zu müssen, und dies nicht nur für Menschen mit einer Demenz, sondern auch mit...

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