II. Die menschlichen Grundmotive und Möglichkeiten der Motivierung des Menschen
1. Motivationen: Antriebe, Sehnsüchte und ihre Wirkung
Wir haben erwähnt, dass der Mensch im Grunde immer ein Wesen mit Motiven oder Strebungen ist, dass er also immer „unzufrieden“ ist und immer voranstrebt. Dies kann man entweder bedauern – oder auch begrüßen. Bedauern müsste man es, wenn man in Betracht zöge, dass damit der Zustand, nach welchem wir uns letzten Endes sehnen, nämlich der der totalen Befriedigung aller unserer Sehnsüchte, nie auf die Dauer erreichbar ist. Sobald wir ein Ziel erreicht haben, beginnt sich bereits ein neues in den Vordergrund zu schieben, das uns erneut aktiv hält! Begrüßen müsste man diesen Umstand, wenn man bedenkt, dass dadurch der Mensch immer ein aktives Wesen ist und dass er dadurch erst zu seinen großen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und auch künstlerischen Leistungen befähigt ist. Wäre er ein für allemal befriedigt, gäbe es keine Aktivität mehr, nur noch passives Vegetieren! Die dauernde Aktivität ihrerseits aber macht den Menschen auch grundsätzlich führbar und überzeugbar. Wenn er schon alles hätte, was er angestrebt hat, könnte man ihm kein Führungsziel plausibel machen und natürlich auch verkaufspsychologisch kein sinnvolles Angebot unterbreiten. Weil er aber immer nach einem Motiv strebt, haben wir darin den eigentlichen Motor im Leben; wir müssen dann jeweils an dasjenige Motiv appellieren, das die größte Dringlichkeitsstufe hat, wenn wir führen oder überzeugen wollen. Bevor wir diese praktische Frage weiter erörtern können, müssen wir aber klären, welche Motive es sind, die uns grundsätzlich antreiben.
2. Die menschlichen Grundmotive als Antriebskräfte
Diejenigen Motive, die bei allen Menschen innerhalb einer vergleichbaren Kultur und Zivilisation gleich sind, nennt man die Grundmotive, eben weil sie grundsätzlich vorhanden sind, wenn auch nicht notwendig alle immer in derselben Intensität, sondern möglicherweise in einer gewissen Abwechslung oder Veränderung. Es liegt auch auf der Hand, dass die inhaltliche Ausrichtung dieser Grundmotive von einer Zeitepoche zu einer anderen wechseln kann: Was wir heute anstreben, haben unsere Vorfahren noch nicht in derselben Weise angestrebt, und unsere Nachkommen werden es vermutlich wieder auf andere Weise zu erreichen suchen als wir. Auch klimatische und kulturgeschichtliche Bedingungen können die Wirkung der Grundmotive wesentlich beeinträchtigen, was z. B. erklärt, dass in tropischen Klimazonen grundsätzlich ein anderes Aktivitätsniveau herrscht als etwa bei uns, wo der Mensch ganz einfach aktiv sein muss, um überleben zu können.
Ein Grundmotiv – sonst nichts?
Befassen wir uns deshalb mit der Frage der Grundmotive, wie sie sich in unserer Kultur und in unserem Klima stellt, so können wir zunächst – psychologiegeschichtlich – feststellen, dass wir zwei voneinander abweichende Grundauffassungen aufzeichnen können: Zuerst ist da der Ansatz des motivationspsychologischen Monismus, der davon ausgeht, dass es ein einziges Grundmotiv geben müsse, von dem aus sich alle anderen ebenfalls wirksamen Motive ableiten ließen. Zum anderen haben wir den motivationspsychologischen Pluralismus, der davon ausgeht, dass es mehrere Motive geben müsse, die den Menschen – vielleicht abwechslungsweise, vielleicht auch gleichzeitig – antreiben und lenken.
Als einen Vertreter des monistischen Standpunktes können wir den klassischen Sigmund Freud rechnen, der in seinen zahllosen Fallstudien nachweisen konnte, dass es sich bei den verschiedensten Motivationen seiner Patienten im Grunde doch immer wieder um libidinöse bzw. sexuelle Motivationen – wenn auch in verschiedener Ausprägung – gehandelt hat. Sobald die damit verbundenen Verdrängungen behoben waren, waren meistens auch die Symptome verschwunden. So führt Freud und viele seiner Schüler die Aktivität des Menschen letzten Endes auf seine libidinöse Grundmotivation zurück, aus der sich durch Sublimation auch die geistige Strebung ableiten lässt. Alles, was der Mensch schafft, und alles, was er erträumt, enthält danach symbolische sexuelle Motivationen. Träumen wir z. B. von Pfirsichen, so ließe sich dies ebenso auf gewisse sexuelle Motive zurückführen, wie wenn wir von einem Koffer träumen, den wir „verstellt“ haben und mit dem dann plötzlich ein anderer spazieren geht. Gerade die Analyse der Traumsymbole durch Freud zeigt den Anspruch, schließlich alles auf einen einfachen Nenner, eben die libidinöse Grunderwartung, zurückzuführen, was sicherlich oft genug auch zutreffen mag. Dennoch können wir vielleicht bedenken, dass Freud zu seiner Zeit mit einem gewaltigen Sexualtabu rechnen musste, dass damals Sexuelles nicht so freizügig diskutiert werden konnte wie das heute der Fall ist. Wir haben das Sexualtabu der damaligen Zeit weitgehend überwunden. Aber leben wir deshalb in einer tabufreien Zeit?
Sollte es sich herausstellen, dass wir heute nur ein neues Tabu an die Stelle eines Alten gesetzt haben, so würde dies bedeuten, dass Freuds Auffassung über die Bedeutung der Verdrängung und der Neurotisierung etc. nach wie vor fast uneingeschränkt gültig wäre, nur dass wir an die Stelle der Sexualitätsmotivation ein anderes Motiv setzen müssten, das eben heute unter einem Tabu stünde.
In der Tat ist offensichtlich, dass wir auch heute Tabus haben, dass wir auch heute nicht ohne weiteres in der Lage oder bereit sind, alles zu sagen oder zu tun, was wir sagen oder tun möchten. Was uns daran hindert, sind diese Tabus, diese ungeschriebenen Gesetze, diese halbbewussten Vorschriften, wie man sich benimmt und verhält! Zwar könnten wir heute in einer entsprechenden Umgebung zugeben, dass wir an sexuellen Aktivitäten interessiert wären, nicht so leicht wäre aber ein Hinweis darauf, dass wir etwa an einer egoistischen Vergrößerung unserer Einflussbereiche oder an einer Ausweitung unserer „Macht“ auch auf Kosten der anderen interessiert wären! Augenblicklich würde man – mit Recht? – als Egoist oder mindestens als extremer Individualist abgestempelt und meistens auch isoliert sein. Man erwartet ganz allgemein ein Bekenntnis zum Altruismus, ein Verstoß dagegen wird mit Ablehnung beantwortet. Gerade dieses Nicht-zugeben-dürfen einer Tendenz, die wir in uns hätten, würde auf ein neues Tabu hinweisen.
Alfred Adler hat nun gerade dieses Tabu schon zu seinen Lebzeiten mit Nachdruck vertreten und immer wieder darauf hingewiesen, dass es nach seinen Analysen nicht die Sexualität, sondern das Streben nach Macht und Geltung sei, was den Menschen im Sinne einer Grundmotivation antreibe. Dieses Motiv sei auch umso stärker, je weniger Geltung der Einzelne zu erhalten glaubt. Dem Streben nach Geltung und nach Macht komme also eine kompensatorische Funktion zu: Je minderwertiger sich ein Mensch fühlt – je größer seine erfahrenen Frustrationen waren – desto intensiver strebt er nach ausgleichender Anerkennung, nach Überlegenheit über andere, auch wenn er dabei das Maß des jeweils Schicklichen weit hinter sich lässt. Ehrgeiz und auch verkrampftes Streben nach Karriere beispielsweise könnte man nach Adler auf diese Weise erklären: ein solcher Mensch hätte irgendwann in seinem Leben eine so starke Niederlage, eine Frustration, erfahren, die er auf diese Weise durch überstarke Anstrengungen auf diesem (neuen) Gebiet kompensieren möchte, um sein individualpsychologisches Gleichgewicht wiederherzustellen.
Man denke aber auch an die Wirkung organischer Minderwertigkeiten in der Form einer kleinwüchsigen Figur, eines anderen Haarwuchses oder auch nur der Linkshändigkeit! In diesen und anderen Fällen neigt der Betroffene häufig dazu, sich als „minderwertig“ zu fühlen und er strebt infolgedessen nach kompensatorischer Geltung auf einem anderen Gebiet. (Ein bekanntes Beispiel dafür ist Napoleon, der tatsächlich ein kleinwüchsiger Mensch mit Linkshändigkeit war und der seine spätere Machtposition auf die Wirkung dieser beiden „Minderwertigkeiten“ zurückführte.)
Auch das Phänomen des Berufswechsels könnte man häufig – wenigstens nach Adler – auf diese Weise erklären: die seitherige Arbeit brachte subjektiv nicht die Erfüllung, die man sich versprochen hatte. Man fühlt sich „unterlegen“, bildet vielleicht sogar ein „Minderwertigkeitsgefühl“ oder einen „Minderwertigkeitskomplex“ aus und versucht nun mit neuer Kraft – manchmal verkrampft – in einem neuen Beruf einen neuen Erfolg zu erlangen. (Der eine oder andere schert sogar in solchen Situationen ganz aus dem...