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Traum und Traumdeutung

AutorWolfgang Mertens
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783406691232
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
'Ein nicht gedeuteter Traum ist wie ein nicht gelesener Brief', so heißt es bereits im Talmud, und zweifelsohne gehört das Träumen zu den rätselhaftesten Fähigkeiten des Menschen. Spätestens mit Sigmund Freuds Traumtheorie hat die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung und dem Sinn von Träumen eine ganz neue Dimension erhalten, versuchen neben den Psychologen auch Mediziner und Biologen das Geheimnis des Träumens zu entschlüsseln. Dieses Buch sucht einen Überblick über die Traumforschung dieses Jahrhunderts zu geben, indem es neben Freuds Arbeiten die wichtigsten tiefenpsychologischen, psychoanalytischen und neurobiologischen Traumtheorien vorstellt und erläutert.

Dr. Wolfgang Mertens, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, ist Professor emeritus für klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem analytische Behandlungstechnik, Krankheitslehre, Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung.

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Leseprobe

Einsichten wie diese werden dem

Sterblichen nur einmal in seinem Leben zuteil

(Sigmund Freud im Vorwort zur dritten engl.

Ausgabe der Traumdeutung)

2. Freuds Traumpsychologie und Traumdeutung


Nicht die Traumdeutung als solche, sondern die psychoanalytische Herangehensweise kann als bleibendes Verdienst von Sigmund Freuds Beschäftigung mit dem Traum betrachtet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Traum ist wesentlich älter. Aber erst Freud gelang unter ständigem Rückgriff auf die Analyse seiner eigenen Träume der Nachweis, daß sich in den scheinbar sinnlosen und rätselhaften Traumproduktionen abgewehrte Sinnzusammenhänge äußern, die in einen sinnhaften Bedeutungshorizont eingegliedert werden können. Dieser Sinn hat unmittelbar mit dem Leben des Träumenden zu tun, mit seinen durch Tagesereignisse ausgelösten Konflikten, Problemen und Hoffnungen, aber vor allem auch mit den durch Erziehung, durch Anstand und Moral zwar abgewehrten, aber letztlich doch unsterblichen Kinderwünschen. Freilich zeigt sich dieser Sinn nicht in einem schnellen Deutungseinfall oder anhand einer einfachen Symbolübersetzung, wie uns dies sogenannte Traumratgeber bis zum heutigen Tag weismachen wollen. Vielmehr gilt es, dieses Sinns erst anhand einer sinnverstehenden Arbeit habhaft zu werden. Einfache Übersetzungen (Träume von einem Eisenbahnzug etwa bedeuten, daß der Zug abgefahren ist; der Blick von einem Hochhaus deutet auf eine suizidale Absicht hin; ein Raubtier verweist auf das Destruktive in uns usf.) müssen eher als Widerstand aufgefaßt werden, sich mit dem Sinn des Traumes tiefgründiger auseinanderzusetzen. Der latente Trauminhalt läßt sich nach Freud nur schrittweise rekonstruieren, ausgehend vom manifesten Traumbericht, den Einfällen des Träumers bestehend aus Tagesresten und Erinnerungen und in der psychoanalytischen Situation noch zusätzlich anhand der Beziehung zwischen Analysand und Analytiker.

Die Traumdeutung ist aber noch aus einem anderen Grund ein epochales Werk für die Psychoanalyse geworden. War nämlich Freud vor dem Erscheinen seiner Traumdeutung ausschließlich mit pathologischen Phänomenen befaßt, so stellt der Traum ein Phänomen des normalen Seelenlebens dar. Die Kenntnis dieses ungemein wichtigen Bereichs menschlicher Geistestätigkeit, und wie wir heute wissen, dieser für das Überleben wichtigen und absolut notwendigen Tätigkeit, befreite die Psychoanalyse erstmals von ihrem subsidiären Status einer Hilfswissenschaft der Psychopathologie und ließ sie als eine Wissenschaft erscheinen, die auch für das Verständnis normalpsychologischer Vorgänge unentbehrlich ist. Damit eröffnete sich ihr „der Weg ins Weite, zum Weltinteresse“, denn „man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen“ (Freud 1925d, S. 73).

Schon als Jugendlicher interessierte sich Freud für Träume, aber es waren vor allem seine Patienten, die ihn dazu bewegten, sich intensiver mit dem Traum zu beschäftigen. Freud nannte den 24. Juli 1895, an dem es ihm erstmals gelang, mittels des Verfahrens der freien Assoziation einen eigenen Traum zu deuten. Dieser Traum, der Traum von „Irmas Injektion“, ist als „Muster-“ oder „Initialtraum“ in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Der in den folgenden Monaten ausgearbeitete Entwurf einer Psychologie enthielt drei Abschnitte über den Traum; aber erst gegen Ende des Jahres 1897 begann Freud mit der Abfassung der Traumdeutung, die er eindreiviertel Jahre später, im Spätsommer 1899, fertigstellte. Im November lag die Arbeit gedruckt vor, der Verleger aber hatte auf das Titelblatt – heute nur allzu verständlich – das Jahr 1900 setzen lassen.

Für Freud stellte die über 600 Seiten umfassende Arbeit der Traumdeutung, die zusammen mit der ein Jahr später fertiggestellten und wesentlich kürzeren Arbeit Über den Traum Band 2 und 3 seiner gesammelten Werke bildet, auch Jahre später noch seine bedeutendste Schrift dar. Dafür spricht auch, daß Freud Die Traumdeutung über die Jahre hinweg anhand von Fußnoten auf dem neuesten Erkenntnisstand hielt. Aber nicht nur in diesem Werk, auch in einer Anzahl von anderen Aufsätzen kehrte Freud immer wieder zum Thema des Traums und der Traumdeutung zurück.

Tab. 1: Freuds Arbeiten zum Traum

Freuds Publikationen zum Thema Traum und Traumdeutung

1900

Die Traumdeutung

1901

Über den Traum

1905

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 6. Kapitel Bruchstück einer Hysterieanalyse

1911

Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse

1913

Ein Traum als Beweismittel Märchenstoffe in Träumen Kindheitsträume mit spezieller Bedeutung

1916/7

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Zweiter Teil: Der Traum Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre

1923

Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung

1925

Einige Nachträge zum Ganzen der Traumdeutung

1933

Neue Folge der Vorlesungen, 29. Vorlesung: Revision der Traumlehre

1938

Abriß der Psychoanalyse, 5. Kapitel: Erläuterung an der Traumdeutung

Die Traumlehre blieb – folgen wir der Einschätzung des Hamburger Freudforschers Thomas Köhler – der wohl konstanteste Theorieteil des Begründers der Psychoanalyse. In der 29. Vorlesung der Neuen Folge resümierte Freud: „Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben, etwas wozu es kein Gegenstück in unserem sonstigen Wissen gibt, ein Stück Neuland, dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen. Die Fremdartigkeit der Behauptungen, die sie aufstellen mußte, hat ihr die Rolle eines Schiboleths verliehen, dessen Anwendung entschied, wer ein Anhänger der Psychoanalyse werden konnte und wem sie endgültig unfaßbar blieb. Mir selbst war sie ein sicherer Anhalt in jenen schweren Zeiten, da die unerkannten Tatbestände der Neurose mein ungeübtes Urteil zu verwirren pflegten. So oft ich auch an der Richtigkeit meiner schwankenden Erkenntnisse zu zweifeln begann, wenn es mir gelungen war, einen sinnlos verworrenen Traum in einen korrekten und begreiflichen seelischen Vorgang beim Träumer umzusetzen, erneuerte sich meine Zuversicht, auf der richtigen Spur zu sein“ (Freud 1933 a, S. 6f.).

Freuds Traumdeutung – Biographische Aspekte


Die Gründlichkeit der Freudschen Argumentation habe es nach Ernest Jones seinen Schülern schwergemacht, wesentliche Revisionen vorzunehmen, so daß die Psychologie des Traums und die daraus abgeleitete Trauminterpretation keinen sehr großen Forschungsanreiz für die nachfolgende Generation darstellen – abgesehen von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Alphonse Maeder u.a., die eigene Wege beschritten. Das hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse jedoch deutlich verändert, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden.

Bereits 1896 ist Die Traumdeutung in ihren wesentlichen Argumentationslinien fertig gewesen, aber erst im Alter von 43 Jahren, im Sommer 1899 hat Freud sie niedergeschrieben. In seiner Selbstdarstellung läßt Freud (1925d) uns wissen, daß er sein Projekt vier bis fünf Jahre unterdrückte, ehe er den Mut fand, damit an die Öffentlichkeit zu treten.

Was ist das besondere an der Traumdeutung? Freuds Traumdeutung ist wissenschaftliches Werk und Autobiographie zugleich; was diese Leistung bedeutet, wird an dem folgenden Umstand unmittelbar ersichtlich: Noch einhundert Jahre nach der Veröffentlichung des Irma-Traums, des Initialtraums der Psychoanalyse, beschäftigen sich Interpreten mit den von Freud verschwiegenen und ihm zumindest teilweise selbst unbewußt gebliebenen biographischen Hintergründen. Aber auch seine anderen in der Traumdeutung veröffentlichten Träume waren Anlaß für viele Reinterpretationen zahlreicher Entwicklungslinien und Konflikte des zu diesem Zeitpunkt 43jährigen Freuds. Freuds Biographen, wie Ernest Jones, Max Schur, Didier Anzieu und Peter Gay, haben in der Traumdeutung die Veröffentlichung seiner Selbstanalyse erblickt. Diese vermittelt unter anderem einen tiefen Einblick in Freuds Ehrgeiz, der wesentliche Impulse aus dem Erleben der Zurücksetzung und narzißtischen Kränkung seines Vaters wegen seines Judentums erhielt.

1886 hatte Freud seine Privatpraxis in Wien gegründet; die Anzahl seiner Patienten schwankte zunächst. In den darauffolgenden Jahren bemühte er sich um den Aufbau einer eigenen psychologischen Theorie. In Wien fühlte...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Inhalt5
1. Das Faszinosum des Traums7
2. Freuds Traumpsychologie und Traumdeutung13
Freuds Traumdeutung – Biographische Aspekte16
Stellt der Traum überhaupt einen psychologischen Gegenstand dar?20
Der Traum von Irmas Injektion: Der Initialtraum der Psychoanalyse24
Der Abend vor dem Irma-Traum24
Der Traum: Versuch einer Wunscherfüllung30
Freuds Wunscherfüllung im Irma-Traum39
Manifester Traum und Kindheitserinnerungen47
Traumarbeit: Wie aus den Kinderwünschen mitteilbare Träume werden48
Zur Unterscheidung von manifestem und latentem Traum49
Zu den Mechanismen der Traumarbeit: Verdichtung und Verschiebung53
Tagesrest: Ein wichtiger Schlüssel zum Traumverstehen62
3. Psychoanalytische Traumforscher nach Freud (Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts)67
Alphonse Maeder: Die prospektive Funktion des Träumens67
Alfred Adler: Träume als charakteristischer Ausdruck eines Menschen69
C. G. Jung: Träume – Verhüllte Kinderwünsche oder Mitteilungen des kollektiv Unbewußten?69
Samuel Lowy: Träumen als ein kontinuierlicher Prozeß im Schlaf74
Harald Schultz-Henckes Traumlehre: Eine tiefenpsychologische Synthese75
4. Psychoanalytische Traumforscher nach Freud (Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts)77
Thomas French und Erika Fromm: Fokalkonflikte in Traumsequenzen79
Träumen als Gedächtniskonsolidierung und Problemlösung80
Geglückte und mißglückte Matching-Prozesse im Traum82
Das Traummodell von Ulrich Moser und Ilka von Zeppelin86
Träumen: Das Fenster zum Unbewußten87
5. Neurophysiologische und neurobiologische Befunde und Hypothesen89
Die Entdeckung des REM-Schlafs89
Von neurophysiologischen Spekulationen zu gesicherten Hypothesen92
Man kann jedem Unsinn einen Sinn geben94
Träumen: Bereinigen von Speicherinhalten?96
Träumen: 150 Millionen Jahre alt?97
6. Empirische Arbeiten zum Traum100
Der Einfluß der subliminalen und vorbewußten Wahrnehmung auf die Traumentstehung101
Assoziationen haben einen Zusammenhang zum verdrängten Unbewußten101
Die Wirkung von Traumentzug auf die Selbstkohärenz102
REM-Deprivationsstudien103
Experimentelle Manipulation vor dem Schlafengehen104
Traum-Intensivierungs-Design104
Traum-Einverleibungs-Design104
Zum Design von Ramon Greenberg105
Warum wacht der Träumer aus einem Traum auf?107
Zentrale Beziehungskonfliktthemen im Traum und im Wachzustand108
7. Traumdeutung110
Traumerinnerung als Voraussetzung für die Deutung110
Traum, Traumerinnerung und Traumbericht112
Traumdeutung ohne Theorie?114
Psychoanalytische Tiefenhermeneutik benötigt theoretische Hintergrundannahmen118
Die verschiedenen Deutungsebenen des Traums121
Zur kommunikativen Funktion des Traumberichtens128
Literaturhinweise132
Register141

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