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E-Book

Vierzig Tage Armenien (DuMont Reiseabenteuer)

In einem alten Land im Kaukasus

AutorConstanze John
VerlagDumont Reiseverlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheDuMont Reiseabenteuer E-Book 
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783616491608
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR

Mit den E-Books der DuMont Reiseabenteuer können viele praktische Zusatzfunktionen nutzen!

Das E-Book basiert auf: 2. Auflage 2017, Dumont Reiseverlag

Schon viele Male war die Autorin in Armenien, wohnte bei einer Familie in Jerewan. Nun macht sie sich auf den Weg, das kleine alte Gebirgsland im Kaukasus allein zu durchqueren. Dabei begegnet sie Menschen, die ihr in nur vierzig Tagen eine weite Reise durch die armenische Geschichte, Mythologie und Gesellschaft ermöglichen. Von den Landfrauen lernt sie, Brot zu backen, die Archäologen nehmen sie mit in ihre Welt der Steine, Vater Aspet zieht mit ihr von Kloster zu Kloster, und jeder weiß uralte Geschichten zu erzählen. Dazu gehört auch die Erinnerung an den grausamen Völkermord von 1915.

Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen... und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!

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Leseprobe

Prolog

Inzwischen ist es dunkel. Die sommerliche Wärme hält an und noch scheint die halbe Stadt auf den Beinen zu sein. Gehst du zügig am Wardan-Mamikonjan-Denkmal vorbei, die Unterführung hinab und auf der anderen Seite der dicht befahrenen Hauptstraße wieder hinauf, kommst du, noch vor dem Kunsthandwerkermarkt Vernissage, direkt zu diesem kleinen Imbiss, an dem es den vielleicht besten Kebab von ganz Jerewan gibt. Hier steht ein Büdchen, das Küche und Kasse zugleich ist, und dort stehen auch die Tische für die Gäste.

Es sind vier Tische, die allesamt besetzt sind. An jedem der Tische sitzt jeweils ein einzelner Herr, und vor jedem dieser einzeln sitzenden Herren steht auf dem Tisch eine Flasche Bier.

Ich halte kurz inne, überlege, spüre aber auch schon den Geschmack des gehackten, angebratenen Lammfleisches auf der Zunge, den Geschmack von Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern, und stelle mir das alles fest eingerollt von einer Lage Fladenbrot, dem lawasch, vor. Die Sache ist entschieden.

Der Vorzug des erstbesten Herrn besteht allein darin, dass ich ihm am nächsten stehe. Also frage ich den großen, etwas fülligen, trotz seines Alters noch immer energiegeladenen Mann auf Russisch, ob bei ihm ein Platz frei sei. Natürlich lächle ich nicht und bin kurz angebunden, so wie ich es inzwischen gelernt habe. Der Abstand zwischen Mann und Frau ist hier, an der Grenze von Okzident zu Orient, anders als in Mitteleuropa zu halten. Mir geht es um den Kebab. Das hat klar zu sein. Der Erstbeste nickt.

Die Kellnerin, eine kleine weiße Schürze umgebunden, kommt zu uns an den Tisch. Wie mein Tischnachbar bestelle auch ich ein Kilikia-Bier und natürlich den Kebab.

»Der Kebab dauert«, sagt die Frau, als sie das Bier bringt. Ein Mann lehnt in der offenen Tür zum Büdchen und schaut ihr bei der Arbeit zu.

Nun sitze ich mit dem Erstbesten am Tisch, schweige, schaue hinüber zum Büdchen, wo der Kebab zubereitet wird, und trinke vom kühlen Bier.

»Woher kommen Sie?«, beginnt der Erstbeste und lässt dabei seine Flasche Kilikia nicht aus dem Blick. »Niederlande? Schweiz?«

»Deutschland.«

»Sie arbeiten hier?«

»Ich schreibe über Armenien.«

»Warum schreiben Sie über Armenien?«

»Weil ich jetzt hier bin«, sage ich, nach wie vor kurz angebunden, und bemerke dabei hinter dem Imbiss die Staffeleien der Maler, die selbst so spät noch auf der Vernissage ihre Bilder zum Verkauf anbieten. Ich frage ihn, ob auch er ein Maler sei.

»Ich komme vom Bau«, sagt er und fügt gleich noch mit hinzu: »Aber ich bin auch Künstler.« Danach folgt eine kleine Pause. »Und außerdem bin ich Wissenschaftler!« Auf meinen fragenden Blick hin schränkt er etwas ein: »Also, kein richtiger Wissenschaftler.«

Der Kebab lässt auf sich warten, der Imbiss ist, ausgenommen das Büdchen, nicht extra beleuchtet und die dunkle Stimmung trotz des Großstadtlärms angenehm. Das Licht der hohen Straßenleuchten strahlt bis zu uns herüber. Leute eilen vorbei. Einige der jüngeren Männer tragen Mappen unter dem Arm. Oder sie tragen, genau wie die Frauen, prall gefüllte Beutel und Taschen. Es ist die Zeit, um nach Hause zu kommen. Dazwischen laufen die Kinder.

Das Bier trinke ich in kleinen Schlucken und denke dabei: Irgendetwas hat dieser Mensch. Etwas ist mit ihm.

Auf der Straße wird gehupt. Ich wundere mich, dass da immer noch Bewegung möglich ist. Die Wagen stehen dicht. Genauso rätselhaft bleibt mir, wie es Busfahrern unter diesen Umständen immer noch gelingen kann, mit Bus oder marschrutka die Haltestelle anzufahren. Die breite Hauptstraße ist Teil des Stadtrings. Parallel dazu zieht sich der Park, der von hier aus gesehen aber schon im Dunkel liegt.

»Sie beschäftigen sich also mit Philosophie«, führe ich das Gespräch, nach einer angemessenen Pause, intuitiv weiter.

»Nein, nicht wirklich. Ich mache Experimente.« Der Erstbeste bleibt ernst, wirkt ganz bei sich, oder auch beim Kilikia, baut jedenfalls unauffällig, wenn überhaupt, seine eigene Brücke in unserem Gespräch. Obwohl er sonst vor jeder Äußerung zögert, als müsse er sich erst einmal befragen, fügt er diesmal überraschend schnell hinzu: »Ich mache Experimente mit Steinen.« Zum ersten Mal schaut er mich offen an.

»Sind das chemische Experimente, die Sie da machen?«, frage ich weiter und denke: Der im Armenischen legendäre Schreiber des Schicksals, Tir genannt, wird schon wissen, was er tut.

»Nein, ich fotografiere die Steine. Und ich drehe kleine Filme über sie.«

Nach wie vor fehlt mir der Zugang. Ich bekomme einfach keine Vorstellung von dem, was er da macht. Die langen Pausen zwischen Fragen und Antworten verleihen allem noch ein zusätzliches Gewicht. Der Kebab lässt auf sich warten.

»Geht es um die Energie der Steine?«, taste ich mich weiter vor. An dieser Stelle nun schaut der Erstbeste ein zweites Mal auf. Die drei anderen Herren an den drei anderen Tischen kriegen wir schon gar nicht mehr mit. »Diese Steine waren schon lange vor uns Menschen hier, auf der Erde. Dadurch sind in ihnen Informationen abgespeichert, die für uns heute wichtig sein können. Und genau das versuche ich zu untersuchen.«

Etwas flimmert vom Fußweg her, von einer roten Säule. Genauer besehen handelt es sich um einen Kaffeeautomaten in Gestalt einer Telefonzelle, mit eingebautem Außenbildschirm. Der schwarz-weiße Werbefilm lenkt mich von der Geschichte mit den Steinen ab. Vom Film wiederum lenkt mich die Kellnerin ab, die mir genau in diesem Augenblick den Teller mit dem Kebab bringt. Fleisch und Marinade sind kräftig gewürzt. Aber das Fladenbrot lawasch und nicht zuletzt das Bier löschen gut ab.

»Und nach welchen Kriterien treffen Sie die Auswahl der Steine?«, frage ich kauend.

»Ich schaue einfach«, erklärt der Erstbeste, sitzt da und demonstriert mir das Schauen. Entweder schaut er jetzt auf die Tischplatte, die Flasche oder auf beides zugleich. Dadurch entsteht die nächste Pause: »Ich sitze da, warte ab und – schaue. Und dann sehe ich schon, was wichtig ist. Ich habe ja auch gleich gesehen, dass Sie Ausländerin sind.«

»Gehen Sie davon aus, dass die Steine leben?«

»Alles, was Natur ist, lebt«, hebt er an, während ich mir mit der weißen Serviette die Hände abwische. Der Kebab ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe, samt dem würzigen Geschmack von Knoblauch und Zwiebel. »Sehen Sie dort diesen Baum? Sein Holz lebt. Vielleicht denkt ja das Holz, dass wiederum der Stein nicht lebt. Wissen Sie, in der Natur ist Stille. Und es herrscht Frieden. Dieser Tisch hier ist künstlich. Und er ist aggressiv. – Sagen Sie, wie ist das eigentlich mit den Deutschen? Wie geht das zu: Zuerst haben die Deutschen so geniale Menschen wie Johann Sebastian Bach, Goethe, Mozart, aber dann plötzlich diesen Hitler!«

Ich zucke die Schultern und, als hätte er darauf sowieso keine Antwort erwartet, ist er bereits beim nächsten Punkt: »Wenn Sie über Armenien schreiben, schreiben Sie aber bitte die Wahrheit!«

»Wie kann ich wissen, was die Wahrheit ist?«, gebe ich zu bedenken. »Ich kann immer nur schauen, so wie Sie; und dann schreibe ich es auf; zumindest das, was ich glaube gesehen zu haben. Wie aber kann ich wissen, ob das nun die Wahrheit ist? Wie lautet beispielsweise die Wahrheit über Ihr eigenes Leben? Wie läuft es? Was ist wichtig für Sie?«

Mir erscheinen diese Fragen groß und äußerst persönlich, aber schon sind sie heraus. Zurückholen kann ich sie nicht mehr. Gerade diesmal zögert der Erstbeste nicht: »Das Wichtigste ist, dass der Mensch nicht einsam ist. Ich habe eine große Familie. Ich glaube, in Deutschland sind die Menschen sehr einzeln. Und das kann ich nicht verstehen. Ich mag es, wie es hier bei uns ist; wie wir alle zusammen sind. Und dass wir einander fragen, wie es gerade geht, und dass wir uns unsere Geschichten erzählen.«

Das Bier in unseren Flaschen geht zur Neige. Mein Teller mit der Serviette ist längst abgeräumt. Nach einer Weile kommt die Kellnerin zurück: »Möchten Sie noch etwas?« »Nein, danke.«

»Wissen Sie«, meint der Erstbeste, als sich unsere Begegnung spürbar ihrem Ende nähert. Die Frage nach Mann oder Frau spielt jetzt keine Rolle mehr. »Mir ist unklar, welchen Weg ich in diesem Leben gehe. Aber … ich gehe ihn.« Und leise fügt er hinzu: »Das ist nicht immer leicht.«

»Ehrlich gesagt«, rutscht es mir heraus, aber ich stocke sofort: Was ich sagen will, kann vermessen klingen und überhaupt falsch aufgefasst werden, erst recht in Anbetracht der Armut, die trotz leuchtender Werbung oder dieser Massen an Autos nach wie vor in Armenien herrscht: »Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es manchmal umso schwerer werden kann, je leichter es ist.«

Es ist, als hätte ich in seinem Innern eine Sperre gelöst: »Richtig! Genauso!«, stimmt er mir zu. »Zu Sowjetzeiten habe ich jede Menge Geld verdient. Geld war für mich kein Problem. Ich habe in einem Kombinat gearbeitet, in einem wirklich großen Betrieb. Ich sage Ihnen jetzt nicht, welches Kombinat das war. Aber immer mittags habe ich im Restaurant gegessen, gleich mehrere Gänge hintereinander, und natürlich habe ich auch getrunken; abends ebenso. Ich habe gearbeitet, war der große Chef, besaß das Geld, aber – ich habe nicht gelebt. Heute lebe ich. Und schon morgen kann ich tot sein. Wir wissen es nicht. Wann schlägt unsere Stunde? – Als ich jung war, habe ich ein Gedicht geschrieben. Es ist für mich nicht einfach, das jetzt passend für Sie auf Russisch auszudrücken. Das Gedicht geht so: ›Die Natur kommt, und sie wandelt sich. Ich weiß nicht, was ich hier soll.‹«

Er rezitiert in dieser verhaltenen...

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